Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
öffnete eine dicke Akte.
»Hat Sie sein Tod überrascht?«
»Nicht unbedingt.«
»Ich würde mir während unseres Gesprächs gern mal seine Akte ansehen«, bat ich.
Er zögerte so lange, dass ich mir überlegte, ob ich ihn nicht aufmein gesetzlich verbrieftes Recht auf Akteneinsicht aufmerksam machen sollte. Aber dann lächelte er wieder, sagte: »Aber gern«, und reichte mir den Ordner.
Ich öffnete ihn und begann seinen Inhalt zu studieren, während wohlriechender, blauer Pfeifenrauch mich einhüllte. An Al Hunts körperlicher Aufnahmeuntersuchung konnte ich nichts Außergewöhnliches entdecken. Er hatte sich in guter körperlicher Verfassung befunden, als er am 10. April vor elf Jahren in die Klinik gekommen war. Die Untersuchung seines Geisteszustandes hingegen hatte ganz andere Ergebnisse zutage gefördert.
»Er befand sich tatsächlich im Zustand der Katatonie, als er eingeliefert wurde?«, fragte ich.
»Schwerst depressiv und unansprechbar«, antwortete Dr. Master son. »Er konnte uns nicht sagen, warum er hier war. Er konnte uns überhaupt nichts sagen. Er hatte nicht genügend seelische Kraft, um Fragen zu beantworten. Sie können in seiner Akte nachlesen, dass wir weder den Stanford-Binet-Test noch das MMPI mit ihm machen konnten und diese Tests später nachholen mussten.«
Die Ergebnisse der Tests fand ich in der Akte. Al Hunts Index beim Stanford-Binet-Intelligenztest lag um die hundertdreißig. Mangelnde Intelligenz war sicherlich nicht sein Problem gewesen, aber das hatte ich auch nicht vermutet. Beim anderen Test, dem Minnesota Multiphasic Personality Inventory, zeigte er weder Symptome von Schizophrenie noch für angeborene Geisteskrankheiten. Dr. Mastersons Einschätzung zufolge litt Al Hunt an einer »schizoiden Persönlichkeitsstörung mit den typischen Merkmalen einer Borderline-Persönlichkeit, die sich als eine kurze reaktive Psychose manifestierte, als er sich im Badezimmer einschloss und mit einem Steakmesser die Pulsadern an den Handgelenken aufschnitt«. Es hatte sich dabei gewissermaßen um eine selbstmörderische Geste gehandelt, und die oberflächlichen Wunden waren mehr als ein Schrei nach Hilfe zu sehen denn als ernsthafter Versuch, seinem leben ein Ende zu setzen. Seine Mutter brachte ihn eiligst zur Notaufnahme in das nächstgelegene Krankenhaus, wo er genäht und dann entlassen wurde.Am nächsten Morgen wurde er in das Valhalla Hospital eingeliefert. Bei einem Gespräch mit Mrs. Hunt stellte sich dann heraus, dass der Vorfall sich ereignet hatte, nachdem ihr Mann beim Abendessen Al gegenüber »die Beherrschung verloren hatte«.
»Anfänglich«, fuhr Dr. Masterson fort, »wollte Al sich weder an Gruppensitzungen noch an Beschäftigungstherapie beteiligen, an denen hier alle Patienten teilnehmen müssen. Er sprach nur schlecht auf die ihm verabreichten antidepressiven Medikamente an, und während unserer Sitzungen konnte ich kaum ein Wort aus ihm herausbringen.«
Als sich nach der ersten Woche noch keine Besserung gezeigt habe, erklärte mir Dr. Masterson weiter, habe er eine Behandlung mit Elektroschocks in Erwägung gezogen, die sich EKT, Elektro-Konvulsiv-Therapie, nennt und für das Gehirn in etwa dasselbe ist, als würde man einen Computer neu starten, anstatt einer Fehlfunktion auf den Grund zu gehen. Auch wenn das Endergebnis durch die Neukanalisierung der Denkströme möglicherweise eine gesunde Neuordnung des Gehirns ist, gehen die Fehlfunktionen, die vorher Störungen verursacht haben, dabei möglicherweise für immer verloren, ohne dass man ihren Ursachen auf den Grund gegangen ist. Im Normalfall wendet man die EKT bei jüngeren Patienten nicht an.
»Wurde Al denn mit der EKT behandelt?«, fragte ich, weil ich keinen Anhaltspunkt dafür in der Akte entdeckte.
»Nein. Gerade als ich beschloss, dass es keine andere Möglichkeit mehr gab, geschah eines Morgens beim Psychodrama ein kleines Wunder.«
Er schwieg kurz, um sich die Pfeife wieder anzuzünden. »Erklären Sie mir doch bitte, wie so eine Psychodrama-Sitzung abläuft«, sagte ich.
»Am Beginn einer solchen Sitzung werden nur Vorübungen gemacht, quasi zum Aufwärmen. Bei der Sitzung, von der ich spreche, mussten sich die Patienten in einer Reihe aufstellen und Blumen darstellen. Tulpen, Narzissen, Gänseblümchen, was ihnen so einfiel. Die Patienten verdrehten ihre Körper so, wie siesich die von ihnen gewählte Blume vorstellten. Es liegt auf der Hand, dass man aus der Blume eine Menge Rückschlüsse
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