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Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman

Titel: Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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auf den Patienten ziehen kann. Es war das erste Mal, dass Al überhaupt bei etwas mitmachte. Er bog seine Arme und senkte den Kopf.« Dr. Masterson machte es vor. Er sah eher wie ein Elefant und nicht wie eine Blume aus. »Als der Therapeut ihn fragte, was für eine Blume er denn sei, antwortete Al: ein Stiefmütterchen.«
    Ich sagte nichts, und eine Welle des Mitleids mit diesem verlorenen Jungen, dessen Person wir eben heraufbeschworen, überkam mich.
    »Natürlich nahmen wir zuerst an, dass das etwas mit der Art und Weise zu tun habe, wie sein Vater von ihm dachte«, erklärte Dr. Masterson und putzte seine Brille mit einem Taschentuch. »Eine brutale, höhnische Anspielung auf Als feminine Züge und seine Zerbrechlichkeit. Aber es war mehr als das.«
    Er setzte seine Brille wieder auf und sah mich unverwandt an. »Wissen Sie etwas von Als Farbassoziationen?«
    »Ein wenig.«
    »Bei Stiefmütterchen denken viele Leute an eine bestimmte Farbe.«
    »Ja, an ein sehr dunkles Violett«, stimmte ich zu.
    »Es entsteht aus der Mischung von Blau, das für Depression steht, und Rot, das Zorn bedeutet. Es ist die Farbe von blauen Flecken, die Farbe des Schmerzes. Als Farbe. Diese Farbe strahlte seine Seele aus.«
    »Es ist auch eine leidenschaftliche und intensive Farbe«, erwiderte ich.
    »Al Hunt war ein sehr empfindsamer junger Mann, Dr. Scarpetta. Wissen Sie, dass er glaubte, hellseherische Fähigkeiten zu besitzen?«
    »Nicht im Einzelnen«, antwortete ich beunruhigt.
    »Sein magisches Denken umfasste Hellseherei, Telepathie und Aberglauben. Es versteht sich von selbst, dass diese Eigenschaften unter extremem Stress besonders stark hervortraten, und dann glaubte er, er könne anderer Leute Gedanken lesen.«
    »Konnte er?«
    »Er besaß eine große Intuition.« Dr. Masterson griff nach seinem Feuerzeug. »Ich muss sagen, seine Wahrnehmungen hatten oftmals Hand und Fuß, und das war ein Problem für ihn. Er spürte, was andere dachten oder fühlten, und manchmal schien er auf unerklärliche Weise erahnen zu können, was sie tun würden oder was sie bereits getan hatten. Schwierig wurde es erst, wie ich ja in unserem Telefongespräch schon kurz angedeutet habe, als Al begann, immer mehr in seine Ahnungen hineinzuprojizieren, und bei seinen Wahrnehmungen zu weit ging. Er verlor sich in anderen Menschen, erregte sich bis zur Paranoia, was teilweise auch daran lag, dass sein eigenes Ego so schwach war. Er war wie Wasser, das immer die Form des Gefäßes annimmt, das es ausfüllt. Um ein Klischee zu gebrauchen, er personalisierte das ganze Universum.«
    »Das ist gefährlich«, bemerkte ich.
    »Mehr als das. Er ist tot.«
    »Meinen Sie, dass er sich selbst für mitfühlend hielt?« »Bestimmt.«
    »Aber das scheint mir mit seiner Diagnose nicht im Einklang zu stehen«, entgegnete ich. »Menschen, die unter Abgrenzungsschwierigkeiten leiden, zeigen normalerweise kein Gefühl für andere.«
    »Ja, aber es war Teil seines magischen Denkens, Dr. Scarpetta. Al glaubte, dass seine sozialen und beruflichen Störungen von seinem überwältigenden Mitgefühl für andere herrührten. Er war wirklich davon überzeugt, dass er die Schmerzen anderer Leute spüren konnte und dass er wusste, was in ihren Köpfen vor sich ging. Aber das habe ich ja schon erwähnt. In Wirklichkeit war Al sozial isoliert.«
    »Das Personal des Metropolitan Hospital sagte, dass er vorbildlich mit den Patienten umging, als er dort als Krankenpfleger arbeitete«, gab ich zu bedenken.
    »Was nicht verwunderlich ist«, konterte Dr. Masterson. »Er war Pfleger in der Notaufnahme. In einer Station, auf der Patientenfür lange Zeit gepflegt werden müssen, hätte er es nie ausgehalten. Al konnte sehr hilfsbereit sein, vorausgesetzt, dass ihm niemand zu nahe kam, dass er nicht gezwungen wurde, zu jemandem eine wirkliche Beziehung aufzubauen.«
    »Das erklärt vielleicht auch, warum er zwar seinen Magister schaffte, dann aber im psychotherapeutischen Praktikum versagte«, mutmaßte ich.
    »Genau.«
    »Wie war das Verhältnis zu seinem Vater?«
    »Es war gestört, völlig verquer«, antwortete Dr. Masterson. »Mr. Hunt ist ein harter, herrschsüchtiger Mann. Seine Vorstellung von der Erziehung seines Sohnes bestand darin, Männlichkeit in ihn hineinzuprügeln. Al hatte ganz einfach nicht die psychische Konstitution, um der dauernden Unterdrückung, derben Behandlung und dem seelischen Schliff zu widerstehen, mit denen er aufs Leben vorbereitet werden sollte. All das

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