Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
wirklich Zweifel über die Art und Weise seines Todes?« Er runzelte die Stirn.
»Nein«, antwortete ich. »Ich glaube, er hat sich das leben genommen, Dr. Masterson. Ich glaube, dass er genau das vorhatte, als er in den Keller ging, und dass er seine Hose höchstwahrscheinlichablegte, als er den Gürtel herauszog. Den Gürtel, mit dem er sich erhängte.«
»Nun gut. Vielleicht kann ich für Sie noch eine andere Sache ein wenig aufklären, Dr. Scarpetta. Al zeigte niemals gewalttätige Tendenzen. Die einzige Person, die er meines Wissens jemals verletzte, war er selbst.«
Ich glaubte ihm. Ich glaubte aber auch, dass es viel gab, was er mir nicht erzählt hatte, und dass seine Gedächtnislücken und seine verschwommenen Antworten Absicht waren. Jim Barnes, dachte ich. Jim Jim.
»Wie lange blieb Al hier?«, wechselte ich das Thema. »Vier Monate, glaube ich.«
»War er jemals in Ihrer geschlossenen Abteilung?«
»Valhalla hat keine geschlossene Abteilung im eigentlichen Sinne. Es gibt hier eine Station, die wir Backhall nennen, auf der psychotische Patienten und solche, die an Delirium tremens leiden und eine Gefahr für sich selbst darstellen, untergebracht sind. Wir verwahren hier keine kriminellen Geisteskranken.«
»War Al jemals auf dieser Station?«, fragte ich.
»Dafür bestand nie die Notwendigkeit.«
»Vielen Dank, dass Sie mir Ihre Zeit geopfert haben«, sagte ich und stand auf. »Wenn Sie mir bitte einfach eine Fotokopie dieser Akte hier zuschicken könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar.«
»Mit Vergnügen.« Er lächelte wieder sein breites Lächeln, sah mich aber diesmal nicht dabei an. »Zögern Sie nicht, mich anzurufen, wenn ich Ihnen noch irgendwie behilflich sein kann.«
Während wir den langen, leeren Korridor zur Lobby zurückgingen, überlegte ich die ganze Zeit, ob ich ihn noch nach Frankie fragen, ob ich diesen Namen überhaupt erwähnen sollte. Mein Instinkt riet mir, es nicht zu tun. Backhall. Patienten, die psychotisch sind oder unter Delirium tremens leiden. Al Hunt hatte erwähnt, dass er mit Patienten in der geschlossenen Abteilung gearbeitet habe. War das ein Produkt seiner Phantasie oder seiner Verwirrung gewesen? Es gab keine geschlossene Abteilung in Valhalla. Und doch hätte leicht jemand mit dem Namen Frankiein der Backhall-Station eingeschlossen gewesen sein können. Vielleicht hatte sich Frankies Zustand mit der Zeit gebessert, so dass er zu der Zeit, als Al in Valhalla war, schon auf eine andere Station verlegt worden war. Vielleicht hatte sich Frankie nur eingebildet, dass er seine Mutter ermordet hatte, vielleicht hatte er sich bloß gewünscht, dazu fähig zu sein?
Frankie erschlug seine Mutter mit einem Holzscheit. Cary Harpers Mörder erschlug ihn mit einem Stück Metallrohr.
Als ich in mein Büro zurückkehrte, war es draußen dunkel, und die Wächter waren da gewesen und schon wieder gegangen.
Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und drehte meinen Stuhl, bis ich am Computer saß. Ich gab einige Kommandos ein, und ein paar Momente später flimmerte der Fall Jim Barnes in bernsteinfarbenen Buchstaben über den Monitor. Am 21. April vor neun Jahren war er mit seinem Wagen bei einem Unfall in Albemarle County verunglückt. Als Todesursache waren »schwere Kopfverletzungen« angegeben. Sein Blutalkohol betrug 1,8 Promille, doppelt so viel wie das vom Gesetz erlaubte Maximum, außerdem hatte er noch Nortriptyline und Amitriptyline genommen. Jim Barnes hatte offensichtlich ein größeres Suchtproblem gehabt.
Das sperrige, archaische Mikrofilmgerät thronte dick und fett wie ein Buddha auf einem Tisch im Archiv ein paar Türen weiter den Gang hinunter. Ich verfüge nicht gerade über eine besondere audiovisuelle Geschicklichkeit. Erst nach einer ungeduldigen Suche im Mikrofilmarchiv fand ich die Filmrolle, die ich brauchte, und irgendwie gelang es mir sogar, sie richtig einzufädeln. Bei ausgeschaltetem Raumlicht ließ ich einen endlosen Strom von unscharfen Schwarzweißbildern an meinen Augen vorbeiziehen. Sie schmerzten bereits, als ich endlich das fand, wonach ich gesucht hatte. Ich drehte an einem Knopf und stellte den handgeschriebenen Polizeibericht auf dem Bildschirm scharf. An einem Freitagabend gegen zehn Uhr fünfundvierzig fuhr Barnes in seinem 73er BMW auf dem Interstate 64 mit hoher Geschwindigkeit in östlicher Richtung. Als sein rechtes Vorderrad von der befestigtenFahrbahn abkam, reagierte er zu heftig, geriet auf den Mittelstreifen und flog durch
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