Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
sich um etwas, das Beryl geschrieben hatte. Ich glaube, es waren mit Schreibmaschine beschriebene Seiten, und seine Wut schien sich gegen Beryl zu richten.«
Die Autobiographie, an der sie schrieb, dachte ich. Oder vielleicht ein Exposé dazu, über das Miss Harper, Beryl und Sparacino mit einem immer wütender werdenden und außer Kontrolle geratenden Cary Harper in New York diskutiert hatten. »Joe ging dazwischen«, erzählte Mrs. McTigue weiter und krallte ihre entstellten Finger zusammen, um ihren Schmerz zurückzuhalten.
»Was tat er?«
»Er fuhr sie heim«, sagte sie. »Er fuhr Beryl Madison nach Hause.« Sie verstummte und starrte mich voller Furcht an. »Deshalb ist es passiert. Ich weiß es.«
»Was ist deshalb passiert?«, fragte ich.
»Deshalb sind sie tot«, antwortete sie. »Ich weiß es. Ich hatte damals schon so ein Gefühl. Es war ein fürchterliches Gefühl.« »Beschreiben Sie es mir. Können Sie das?«
»Deshalb sind sie tot«, wiederholte sie. »Es war an diesem Abend so viel hass zwischen ihnen.«
13
Das Valhalla Hospital lag auf einer Anhöhe in der vornehmen Welt des Albemarle County, in dem ich wegen fakultärer Verbindungen zur University of Virginia ein paarmal im Jahr zu tun hatte. Obwohl mir das mächtige Ziegelgebäude hoch oben auf seinem Hügel schon oft vom Interstate-Highway aus aufgefallen war, hatte ich die Klinik bisher weder aus beruflichen noch aus privaten Gründen aufgesucht. Früher war sie einmal ein Grand Hotel gewesen, in dem betuchte und berühmte Gäste gern abstiegen. Während der großen Depression ging es bankrott und wurde von drei Brüdern, die alle Psychiater waren, gekauft. Diese verwandelten Valhalla systematisch in eine Freudianische Fabrik, in ein psychiatrisches Asyl für die Reichen, wohin Familien mit dem nötigen finanziellen Hintergrund ihre genetischen Ausrutscher und Peinlichkeiten, ihre senilen Alten und schlecht programmierten Kinder abschieben konnten.
Es überraschte mich nicht, dass Al Hunt als Teenager hier behandelt worden war. Dass sein Psychiater so ungern über ihn sprechen wollte, überraschte mich allerdings schon eher. Unter Dr. Warner Mastersons kollegialer Freundlichkeit verbarg sich das Urgestein der Verschwiegenheit, das hart genug war, um auch der bohrendsten Befragung standzuhalten. Ich wusste, dass er nicht mit mir sprechen wollte. Er wusste, dass er keine andere Wahl hatte.
Ich stellte das Auto auf dem gekiesten Besucherparkplatz ab und ging in die Empfangshalle, die mit Stilmöbeln, Orientteppichen und schweren, schon leicht fadenscheinig wirkenden Wandbehängen ausgestattet war. Ich wollte mich gerade am Empfang anmelden, als mich jemand von hinten ansprach.
»Dr. Scarpetta?«
Ich drehte mich um und sah einen großen, schlanken Mann, der einen schwarzen Anzug im europäischen Schnitt trug. Erhatte sandfarbenes, etwas schütteres Haar und eine hohe aristokratische Stirn.
»Ich bin Warner Masterson«, stellte er sich vor und reichte mir mit einem breiten lächeln die Hand.
Ich überlegte mir gerade, ob ich ihn vielleicht schon einmal irgendwo gesehen hatte und mich jetzt womöglich nicht mehr an ihn erinnerte, als er mir erklärte, dass er mein Gesicht aus der Zeitung und den Fernsehnachrichten kannte, worüber ich nicht gerade hocherfreut war.
»Gehen wir nach hinten in mein Büro«, fügte er freundlich hinzu. »Ich hoffe, Ihre Fahrt hier heraus hat Sie nicht allzu sehr erschöpft. Darf ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee? Oder ein Mineralwasser?«
Während diesem ganzen Gerede ging er mit großen Schritten voran, so dass ich Mühe hatte, an seiner Seite zu bleiben. Ein nicht unwesentlicher Teil der Menschheit hat keine Ahnung davon, was es bedeutet, nur mit kurzen Beinen ausgestattet zu sein, und ich komme mir oft lächerlich vor, wenn ich wie eine hektisch pumpende Draisine neben diesen Expresszügen herrasen muss. Dr. Masterson war schon am anderen Ende eines langen, mit Teppich ausgelegten Korridors angelangt, als er schließlich daran dachte, sich umzudrehen.
Er wartete vor einer Tür, bis ich ihn eingeholt hatte, und bat mich dann einzutreten. Ich setzte mich unaufgefordert auf den nächsten Stuhl, während er seine Position hinter seinem Schreibtisch einnahm und mit automatisch wirkenden Bewegungen begann, eine teuer aussehende Pfeife zu stopfen. »Ich brauche Ihnen ja wohl nicht zu sagen, Dr. Scarpetta, wie sehr mich Al Hunts Tod entsetzt hat«, begann Dr. Masterson in seiner langsamen, genauen Art und
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