Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
steckt er überhaupt? Ist er zum Essen gegangen?«
»Ich hoffe, dass er nach Frankies Akte sucht.«
»Ja. Das hoffe ich auch.«
»Welche Dinge ergeben sich aus anderen?«, fragte ich ihn noch einmal. »Woran denken Sie? Könnten Sie das vielleicht ein bisschen präzisieren?«
»Lassen Sie es mich mal so sagen: Ich habe das dringende Gefühl, dass alle drei noch am leben wären, wenn Beryl nicht dieses verdammte Buch geschrieben hätte. Sogar Hunt wäre vermutlich noch quicklebendig.«
»Da wäre ich mir nicht so sicher.«
»Natürlich sind Sie das nicht. Sie sind ja immer so verdammt objektiv. Aber ich bin mir sicher, okay?« Er schaute zu mir herüber und rieb sich seine müden Augen. Sein Gesicht war rot. »Ichhabe nun mal dieses Gefühl, okay? Es sagt mir, dass Sparacino und das Buch der Schlüssel sind. Das hat den Mörder ursprünglich mit Beryl verbunden, und danach ergab eines das andere. Als Nächstes brachte der Irre Harper um. Daraufhin nahm Miss Harper eine Dosis Tabletten, die auch ein Pferd umgebracht hätte, um nicht allein in ihrer riesigen Hütte herumlaufen zu müssen, während der Krebs sie langsam auffraß. Und dann baumelte auch noch Hunt von der Decke, in seinen gottverdammten Unterhosen.«
Die orangefarbene Faser mit ihrem merkwürdigen Querschnitt eines dreiblättrigen Kleeblatts kam mir in den Sinn, ebenso wie Beryls Manuskript, Sparacino, Jeb Price, Senator Partins Hollywood-Sohn, Mrs. McTigue und Mark. Sie waren Glieder und Sehnen eines Körpers, den ich nicht zusammensetzen konnte. Auf irgendeine unerklärliche Art und Weise waren sie die Alchemie, durch die anscheinend völlig unbeteiligte Leute und Ereignisse zu Frankie geformt worden waren. Marino hatte recht. Eine Sache ergibt sich immer aus einer anderen. Mord entsteht niemals im Vakuum. Nichts, was böse ist, tut das.
»Haben Sie irgendeine Theorie, wie diese Verbindung aussehen könnte?«, fragte ich Marino.
»Nein, überhaupt keine«, antwortete er und gähnte genau in dem Moment, als Dr. Masterson wieder in das Büro trat und die Tür schloss.
Mit Zufriedenheit bemerkte ich, dass er einen Stapel Patientenakten bei sich hatte.
»Nun denn«, begann er kühl und ohne einen von uns anzusehen. »Ich habe niemanden mit dem Namen Frankie gefunden, aber ich glaube ohnehin, dass es sich dabei um einen Spitznamen handelt. Deshalb habe ich einige Fälle anhand des Therapiedatums, des Alters und der Rasse des Patienten herausgesucht. Ich habe hier außer der Akte von Al Hunt die Akten von sechs männlichen Weißen, die in dem Zeitraum, der Sie interessiert, Patienten im Valhalla waren. Sie waren damals zwischen dreizehn und vierundzwanzig Jahre alt.«
»Wie wäre es, wenn Sie uns die Akten mal kurz durchblättern ließen, während Sie sich gemütlich zurücklehnen und Ihre Pfeife rauchen?« Marino war ein bisschen weniger angriffslustig, aber nicht viel.
»Ich würde es vorziehen, Ihnen aus Gründen der Schweigepflicht zunächst einmal die Geschichte der einzelnen Patienten vorzutragen, Lieutenant. Wenn Sie eine davon besonders interessiert, können wir den Fall im Detail durchgehen. Ist das fair?«
»Ja«, antwortete ich, bevor Marino etwas einwenden konnte.
»Der erste Fall«, begann Dr. Masterson und öffnete die erste Akte, »ist ein Neunzehnjähriger aus Highland Park in Illinois. Er wurde im Dezember 1978 wegen Drogenmissbrauchs eingeliefert; es handelte sich um Heroin.« Er blätterte um. »Er war einen Meter siebzig groß und wog sechsundsiebzig Kilo, Augen braun, Haare braun. Seine Behandlung dauerte drei Monate.«
»Al Hunt kam erst im April darauf in die Klinik«, erinnerte ich den Psychiater. »Sie hätten also nicht zur gleichen Zeit Patienten sein können.«
»Ja, ich glaube, Sie haben recht. Ein Versehen meinerseits. Den können wir also streichen.« Er legte die Akte auf seine Schreibunterlage, und ich warf Marino einen warnenden Blick zu. Ich wusste, dass er gleich explodieren würde. Sein Gesicht war rot wie der Weihnachtsmann.
Dr. Masterson öffnete eine neue Akte und begann wieder: »Als Nächstes haben wir einen vierzehnjährigen Jungen, blond, blauäugig, eins siebenundfünfzig groß, zweiundfünfzig Kilo. Er kam im Februar 1979 und wurde sechs Monate später entlassen. Er litt unter Hospitalismus, zeitweisen Wahnvorstellungen und anderen Verhaltensstörungen. Er wurde als verwirrter hebephrenischer Schizophrener diagnostiziert.«
»Würden Sie uns bitte erklären, was, in drei Teufels Namen, das
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