Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
bedeutet?«, fragte Marino.
»Seine Störung äußerte sich in Verwirrtheit, bizarrem Benehmen, extremer sozialer Zurückgezogenheit und in anderen merkwürdigen Verhaltensweisen. Zum Beispiel«, er überflog eine Seite,»ging er am Morgen zur Bushaltestelle, kam aber nie in der Schule an, und einmal wurde er unter einem Baum sitzend entdeckt, wie er unsinniges Zeug in sein Schulheft zeichnete.«
»Ach ja. Und heute ist er ein berühmter Maler und lebt in New York«, murmelte Marino zynisch. »Ist sein Name Frank, Franklin, oder beginnt er überhaupt mit einem F?«
»Nein.«
»Also, wer kommt als Nächster?«
»Als Nächster kommt ein Zweiundzwanzigjähriger aus Delaware. Rothaarig, mit grauen Augen, äh, eins achtundsiebzig groß und achtundsechzig Kilo schwer. Er wurde im März 1979 aufgenommen und im Juni entlassen. Seine Diagnose lautete auf organisches Wahnsyndrom. Dazu kamen dann zeitweise Epilepsie und früherer Cannabis-Missbrauch. Als Komplikationen kamen eine Dysphorie und ein unter Wahnvorstellungen begangener Versuch der Selbstkastration hinzu.«
»Was ist eine Dysphorie?«, erkundigte sich Marino.
»Ein Zustand der Angst, Ruhelosigkeit und der Depression.« »War das bevor oder nachdem er versucht hatte, sich selbst zum Sopran zu machen?«
Dr. Masterson wurde langsam ärgerlich, was ich ihm nicht verübeln konnte.
»Nächster!«, befahl Marino wie ein Feldwebel auf dem Exerzierplatz.
»Als vierten Fall hätten wir einen Achtzehnjährigen mit schwarzem Haar und braunen Augen. Eins fünfundsiebzig groß, fünfundsechzig Kilo schwer. Er kam im Mai 1979 und war laut Diagnose ein paranoider Schizophrener. Seine Vorgeschichte«, Dr. Masterton blätterte um und nahm seine Pfeife, »verzeichnet grundlose Wutanfälle, Angstzustände mit Zweifeln an der Geschlechtszugehörigkeit und eine ausgesprochene Angst davor, als homosexuell angesehen zu werden. Seine Psychose begann offensichtlich damit, dass er auf der Herrentoilette von einem Homosexuellen belästigt wurde ...«
»Einen Moment mal!« Wenn Marino ihn nicht gestoppt hätte,hätte ich es getan. »Über den da müssen wir uns genauer unterhalten. Wie lange war er in Valhalla?«
Dr. Masterson zündete sich seine Pfeife an. Er nahm sich Zeit, um die Akte durchzusehen, und sagte dann: »Zehn Wochen.«
»Also war er in der Klinik, als auch Hunt hier war«, stellte Marino fest.
»Das stimmt.«
»Er ist also in einer Herrentoilette belästigt worden und hat seither nicht mehr alle Tassen im Schrank. Wie war das genau? Was für eine Psychose hatte er?«, fragte Marino.
Dr. Masterson blätterte durch die Akte. Er schob sich die Brille hoch und antwortete: »Es handelte sich um zeitweiligen Größenwahn. Er dachte, Gott habe ihm befohlen, gewisse Dinge zu tun.«
»Was für Dinge?«, fragte Marino weiter und beugte sich etwas vor.
»Hier steht nichts Spezifisches, außer dass er ziemlich bizarre Sachen geäußert haben soll.«
»Und er war ein paranoider Schizophrener?«
»Ja.«
»Können Sie das mal näher definieren? Wie waren zum Beispiel seine anderen Symptome?«
»Im klassischen Sinne«, antwortete Dr. Masterson, »gibt es viele Symptome, die mit Größenwahn oder mit Halluzinationen größenwahnsinnigen Inhalts in Verbindung gebracht werden. Da wäre zum Beispiel krankhafte Eifersucht, extrem intensive interpersonale Interaktionen, Streitsucht und manchmal auch Gewalttätigkeit.«
»Wo kam er her?«
»Aus Maryland.«
»Mist«, murmelte Marino. »Lebte er bei seinen Eltern?« »Er lebte bei seinem Vater.«
Ich sagte: »Sind Sie sicher, dass er paranoid und nicht undifferenziert schizophren war?«
Dieser Unterschied erschien mir wichtig. Schizophrene desundifferenzierten Typs legen oft ein extrem verwirrtes Verhalten an den Tag. Sie sind normalerweise nicht in der Lage, ein Verbrechen zu planen und sich danach erfolgreich der Festnahme zu entziehen. Die Person, nach der wir suchten, musste immerhin gefestigt genug sein, um Verbrechen planen und durchführen zu können und dabei unentdeckt zu bleiben.
»Ich bin mir ziemlich sicher, dass er paranoid schizophren war«, antwortete Dr. Masterson. Nach einer Pause fügte er sanft hinzu: »Der Vorname dieses Patienten ist interessanterweise Frank.«
Dann übergab er mir die Akte, und Marino und ich überflogen sie schnell.
Frank Ethan Aims oder Frank E., also »Frankie«, wie ich mir zusammenreimte, hatte Valhalla Ende Juli 1979 verlassen und war, wie eine von Dr. Masterson später
Weitere Kostenlose Bücher