Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
Kreditkarte oder Schecks benutzen musste, auf denen ihr Name gestanden hätte. Sie hatte Angst. Sie war auf der Flucht. Sie wollte nicht sterben.«
Er starrte mich mit großen Augen an.
»Bitte, sagen Sie mir, was Sie wissen. Bitte. Ich habe das Gefühl, dass Sie ihr Freund waren.«
Er stand auf, erwiderte nichts und kam hinter der Bar hervor. Mit dem Rücken zu mir begann er, leere Flaschen und anderen Abfall, den die jungen Leute auf der Plattform zurückgelassen hatten, einzusammeln.
Ich schlürfte schweigend meinen Drink und schaute an ihm vorbei aufs Wasser. Draußen entfaltete ein braungebrannter junger Mann ein tiefblaues Segel und machte sein Boot klar zum Ablegen. Palmwedel flüsterten in der Brise, und ein schwarzer Neufundländer tänzelte den Strand entlang und jagte in die Brandung und wieder heraus.
»Zulu«, murmelte ich und blickte wie betäubt auf den Hund. Der Barkeeper hörte mit dem Einsammeln auf und schaute mich an. »Was haben Sie da eben gesagt?«
»Zulu«, wiederholte ich. »Beryl hat Zulu und die Katzen hier in einem ihrer Briefe erwähnt. Sie schrieb, dass Louies streunende Tiere besser essen als mancher Mensch hier.«
»Was für Briefe?«
»Während sie hier war, schrieb sie einige Briefe. Wir fanden sie nach dem Mord in ihrem Schlafzimmer. In ihnen berichtete sie, dass sie sich bei den Leuten hier wie zu Hause fühle, dass hier der schönste Platz auf der Welt sei. Ich wünschte, sie wäre niemals nach Richmond zurückgekehrt. Ich wünschte, sie wäre hiergeblieben.«
Meine Stimme kam mir vor, als wäre sie die von jemand anderem, und mir verschwamm alles vor den Augen. Meine schlechten Schlafgewohnheiten, angestauter Stress und der Rum fielen gemeinsam über mich her, und die Sonne schien das bisschen Blut, das noch durch meinen Kopf floss, vollends auszutrocknen.
Als der Barkeeper schließlich zu seiner Schilfhütte zurückkam, sagte er ruhig, aber gefühlsbewegt: »Ich weiß zwar nicht, was ich Ihnen erzählen soll, aber Sie haben recht. Ich war Beryls Freund.«
Ich drehte mich zu ihm und sagte: »Danke. Ich würde auch gern behaupten können, dass ich ihre Freundin war. Dass ich ihre Freundin bin.«
Er senkte verlegen seinen Blick, aber ich bemerkte, dass sein Gesicht weicher geworden war.
»Man kann niemals genau sagen, wer okay ist und wer nicht«, meinte er. »Heutzutage tut man sich sehr schwer damit, das ist mal sicher.«
Was er damit ausdrücken wollte, sickerte nur langsam durch den Schleier meiner Müdigkeit. »Haben sich vielleicht noch andere Leute nach Beryl erkundigt? Leute, die nicht okay waren? Andere Leute als die Polizei? Jemand anderes als ich?«
Er goss sich eine Cola ein.
»War jemand hier? Wer?«, wiederholte ich. Auf einmal war ich beunruhigt.
»Ich weiß nicht, wie er heißt.« Er nahm einen tiefen Schluck. »So ein gutaussehender Jüngling, vielleicht Mitte zwanzig. Dunkel. Gut gekleidet, mit einer Designer-Sonnenbrille. Sah aus, als käme er gerade aus einem Modegeschäft. Ich glaube, das ist jetzt ein paar Wochen her. Er sagte, er sei Privatdetektiv oder etwas ähnlich Schwachsinniges.«
Senator Partins Sohn.
»Er wollte wissen, wo Beryl wohnte, als sie hier war«, fuhr er fort.
»Haben Sie es ihm gesagt?«
»Zum Teufel, ich habe nicht einmal mit ihm geredet.« »Hat irgendjemand es ihm gesagt?«, wollte ich wissen. »Das ist nicht sehr wahrscheinlich.«
»Warum ist es nicht sehr wahrscheinlich. Und wie lange wollen Sie mir eigentlich noch Ihren Namen verschweigen?«
»Es ist nicht wahrscheinlich, weil es niemand außer mir undmeinem Kumpel wusste«, erwiderte er. »Und meinen Namen verrate ich Ihnen, wenn Sie mir den Ihren sagen.«
»Kay Scarpetta.«
»Freut mich. Mein Name ist Peter. Peter Jones. Meine Freunde nennen mich P. J.«
P. J. lebte zwei Blocks von Louie’s Backyard entfernt in einem winzigen Haus, das vollkommen von einem tropischen Dschungel überwuchert war. Es war so dicht umrankt, dass mir das Holzhaus mit seinem abblätternden Anstrich ohne den davor stehenden Plymouth Barracuda überhaupt nicht aufgefallen wäre. Ich erkannte auf den ersten Blick, warum dieser Wagen ständig von der Polizei angehalten wurde. Das Ding sah aus wie ein Haufen u-Bahn-Graffiti auf überbreiten Reifen, mit Front- und Heckspoiler, höhergelegter Hinterachse und einer Lackierung im psychedelisch-farbenfrohen Design der sechziger Jahre.
»Das ist mein Baby«, stellte P. J. sein Auto vor und gab der Kühlerhaube einen freundlichen
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