Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
Couchtisch.
»Sie beide waren vielleicht die einzigen Freunde, die sie je hatte.«
»Beryl war schon etwas Besonderes.« Er sah mich an. »Sie war eine Persönlichkeit. Ich habe noch nie jemanden wie sie getroffen und werde es vermutlich auch nicht wieder tun. Wenn man die Mauer um sie herum durchbrochen hatte, war sie eine wirklich tolle Frau. Wahnsinnig intelligent.« Er legte seinen Kopf an die Lehne des Sessels und starrte hinauf zur Decke, deren Anstrichabblätterte. »Ich habe ihr so gern zugehört. Sie konnte sich wirklich super ausdrücken, einfach so ...« Er schnippte mit den Fingern.
»Ich könnte das nie, und wenn ich zehn Jahre über etwas nachdenken würde. Meine Schwester ist so ähnlich wie sie. Sie ist Lehrerin in Denver. Für Englisch. Ich war nie besonders fix mit Worten. Bevor ich Barkeeper wurde, habe ich mehr mit meinen Händen gearbeitet. Am Bau, zum Beispiel, als Maurer und Zimmermann. Ich probierte es auch mal mit töpfern, aber dabei wäre ich fast verhungert. Ich kam wegen Walt hierher. Ich traf ihn ausgerechnet in Mississippi. Wir fuhren zusammen den ganzen Weg hinunter nach Louisiana und redeten die ganze Fahrt über miteinander. Ein paar Monate später landeten wir beide hier in Florida. Es ist schon seltsam.« Er sah mich an. »Ich meine, das ist jetzt schon fast zehn Jahre her. Und alles, was mir bleibt, ist dieses Loch hier.«
»Ihr Leben ist doch noch lange nicht vorbei, P. J.«, entgegnete ich sanft.
»Ja, ja.« Er wandte sein Gesicht zur Decke und schloss die Augen.
»Wo ist Walt jetzt?«
»In Lauderdale, soviel ich weiß.«
»Das tut mir sehr leid.«
»So was kommt vor. Was soll ich sagen?«
Einen Moment lang schwiegen wir, und ich beschloss, dass es Zeit war, einen Versuch zu wagen.
»Beryl hat, als sie hier war, ein Buch geschrieben.«
»Das stimmt. Wenn sie sich nicht mit uns beiden herumtrieb, hat sie an dem verdammten Buch gearbeitet.«
»Es ist verschwunden«, sagte ich.
Er reagierte nicht.
»Dieser sogenannte Privatdetektiv, den Sie erwähnt haben, und auch eine Reihe anderer Leute interessieren sich sehr für dieses Buch. Aber das wissen Sie schon, glaube ich zumindest.«
Er blieb stumm, seine Augen waren immer noch geschlossen.
»Sie haben keinen Grund, warum Sie mir vertrauen sollten, P. J., aber ich hoffe, dass Sie mich anhören werden«, fuhr ich mit leiser Stimme fort. »Ich muss das Manuskript, an dem Beryl hier unten gearbeitet hat, unbedingt finden. Sie hat es nicht mit nach Richmond genommen, als sie Key West verließ. Können Sie mir helfen?«
Er öffnete seine Augen und spähte zu mir herüber. »Bei allem gebührenden Respekt, Dr. Scarpetta, sagen wir mal, ich wüsste wirklich etwas, warum sollte ich Ihnen helfen? Warum sollte ich dafür ein Versprechen, das ich gegeben habe, nicht halten?«
»Haben Sie ihr versprochen, dass Sie niemandem verraten würden, wo das Manuskript ist?«, fragte ich.
»Das ist nicht wichtig, und außerdem habe ich Sie zuerst gefragt«, antwortete er.
Ich atmete tief durch, und als ich mich vorbeugte, senkte ich den Blick auf den schmutzigen Flokati-Teppich unter meinen Füßen.
»Ich kann Ihnen keinen überzeugenden Grund nennen, warum Sie Ihr Versprechen einer Freundin gegenüber brechen sollten, P. J.«, bemerkte ich.
»Quatsch. Sie würden mich nicht fragen, wenn Sie keinen überzeugenden Grund hätten.«
»Hat Beryl Ihnen von ihm erzählt?«, fragte ich.
»Sie meinen von dem Schwein, das sie bedroht hat?« »Ja.«
»O ja. Ich weiß alles über ihn.« Er stand unvermittelt auf. »Ich weiß nicht, wie das mit Ihnen ist, aber ich könnte jetzt ein Bier vertragen.«
»Ja, bitte«, sagte ich, weil ich glaubte, dass es jetzt wichtig war, seine Einladung auch wider bessere Einsicht anzunehmen. Ich war immer noch ziemlich benebelt von dem Rum. Als er aus der Küche zurückkam, gab er mir eine mit Feuchtigkeit beschlagene Flasche eiskaltes mexikanisches Corona. In ihrem langen Hals steckte ein Limonenschnitz. Das Bier schmeckte wunderbar.
P. J. setzte sich und fuhr fort. »Straw, ich meine Beryl – ichglaube, ich kann sie genauso gut Beryl nennen –, hatte fürchterliche Angst. Um ehrlich zu sein, nachdem ich erfahren hatte, was los war, wunderte ich mich nicht mehr darüber. Ich meine, ich fand es wirklich schlimm. Aber es überraschte mich nicht. Ich sagte ihr, sie solle bleiben. Ich sagte ihr, sie solle die Miete vergessen und einfach so bei uns wohnen. Walt und ich, nun, ich glaube, es war komisch, aber
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