Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
Er sagte, du wärest der Chief Medical Examiner von Virginia. Ich bekam panische Angst. Ich wollte nicht, dass er sich auf dich stürzte. Ich dachte, es wäre besser, wenn ich das täte.«
»Ich weiß deine Ritterlichkeit zu schätzen«, erwiderte ich ironisch.
»Das solltest du auch.« Er sah mir in die Augen. »Ich erzählte ihm, dass wir zwei früher eine Beziehung miteinander hatten. Ich wollte ihn dazu bringen, dich mir zu überlassen. Und das hat er auch getan.«
»Und das ist alles?«, fragte ich.
»Ich wünschte, es wäre so, aber ich befürchte, dass ich auch noch andere Motive dabei hatte.«
»Was für welche?«
»Ich glaube, die Chance, dich wiederzusehen, hat mich ebenso gereizt.«
»Das hast du schon gesagt.«
»Und das war nicht gelogen.«
»Wie ist das jetzt? Lügst du jetzt?«
»Ich schwöre bei Gott, dass ich dich jetzt nicht anlüge«, antwortete er.
Mir fiel plötzlich ein, dass ich immer noch ein Polohemd undShorts trug, dass meine haut verschwitzt und mein Haar völlig zerzaust war. Ich entschuldigte mich und ging ins Badezimmer. Eine halbe Stunde später war ich in mein Lieblingskleid aus Samt gehüllt, und Mark lag tief schlafend auf meinem Bett.
Als ich mich neben ihn setzte, öffnete er seufzend seine Augen. »Sparacino ist ein sehr gefährlicher Mann«, sagte ich und fuhr ihm mit meinen Fingern langsam durch die Haare.
»Ganz ohne Zweifel«, murmelte Mark verschlafen.
»Er hat Partin hierhergeschickt. Ich verstehe nicht, woher er wusste, dass Beryl jemals hier war.«
»Sie hat ihn von hier unten aus angerufen, Kay. Er hat es die ganze Zeit über gewusst.«
Ich nickte. Eigentlich überraschte es mich nicht. Beryl war vermutlich bis zum bitteren Ende von Sparacino abhängig gewesen, aber irgendwie hatte sie wohl begonnen, ihm zu misstrauen. Sonst hätte sie ihr Manuskript ihm anvertraut und nicht einem Barkeeper namens P. J.
»Was würde er tun, wenn er wüsste, dass du hier bist?«, fragte ich leise. »Was würde Sparacino tun, wenn er wüsste, dass du und ich jetzt zusammen in diesem Zimmer sitzen und diese Unterhaltung führen?«
»Er wäre schrecklich eifersüchtig.«
»Nein, im Ernst.«
»Wenn er wüsste, dass er ungeschoren davonkäme, würde er uns vermutlich umbringen.«
»Würde er ungeschoren davonkommen, Mark?«
Er zog mich an sich und flüsterte mir ins Ohr: »Bestimmt nicht.«
Am nächsten Morgen weckte uns die Sonne, und nachdem wir uns noch einmal geliebt hatten, schliefen wir eng umschlungen weiter bis zehn.
Während Mark sich duschte und rasierte, schaute ich aus dem Fenster, und niemals zuvor waren auf Key West die Farben so leuchtend und der Sonnenschein so großartig gewesen wie andiesem Tag. Am liebsten hätte ich hier ein kleines Ferienhaus gekauft, in dem Mark und ich uns dann den Rest unserer Tage hätten lieben können. Ich würde zum ersten Mal seit meinen Kindertagen wieder mit dem Fahrrad fahren und wieder anfangen, Tennis zu spielen, und mit dem Rauchen aufhören. Ich würde mir mehr Mühe geben, mit meiner Familie auszukommen, und Lucy würde uns häufig besuchen können. Ich würde auch oft zu Louie gehen, und P. J. würde unser Freund werden. Ich würde den Tanz des Sonnenlichts auf dem Meer betrachten und dabei für eine Frau mit Namen Beryl Madison beten, deren schrecklicher Tod meinem Leben einen neuen Sinn gegeben und mich wieder zu lieben gelehrt hatte. Nach einem späten Frühstück auf dem Zimmer zog ich unter Marks ungläubigen Blicken Beryls Manuskript aus dem Rucksack.
»Ist es das, was ich vermute?«, fragte er.
»Ja, es ist genau das, was du vermutest«, gab ich ihm zur Antwort.
»Wo, um Himmels willen, hast du es gefunden, Kay?« Er stand vom Tisch auf.
»Sie hat es bei einem Freund gelassen«, erwiderte ich. Bald darauf stopften wir uns Kissen hinter den Rücken und saßen, das Manuskript zwischen uns, auf dem Bett, und ich erzählte Mark alles über meine Unterhaltung mit P. J.
Aus dem Morgen wurde Nachmittag, und wir verließen das Zimmer nur, um das schmutzige Geschirr in den Gang zu stellen und die Sandwiches und Snacks entgegenzunehmen, die wir bestellt hatten, als wir in dem Manuskript zu lesen begannen. Stundenlang sprachen wir kaum miteinander und blätterten uns durch die Seiten von Beryl Madisons Leben. Das Buch war unglaublich und ließ mir mehr als einmal Tränen in die Augen steigen.
Beryl war ein Paradiesvogel, der mitten in einem Sturm zur Welt gekommen war, ein zerrupftes Farbbündel, das sich an
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