Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
kam, war ja kein erfreulicher. Ich bin sicher, dass diese Geschichte mit Harper sie sehr mitgenommen hat.«
»Was hat sie getrunken?«
»Bitte?«
»Die drei Cocktails. Woraus bestanden sie?«, fragte ich.
Er runzelte die Stirn und starrte quer durch die Küche. »Mein Gott, das weiß ich doch nicht mehr, Kay. Was macht das für einen Unterschied?«
»Ich weiß nicht genau«, sagte ich und dachte an ihre Hausbar. »Hat sie über die Drohungen gesprochen, die sie erhielt? Ich meine, tat sie es in deiner Gegenwart?«
»Ja. Und Sparacino hat sie ebenfalls erwähnt. Ich weiß nur, dass sie sehr eindeutige Telefonanrufe bekam. Es war immer dieselbe Stimme, niemand, den sie kannte, wenigstens behauptete sie das. Und es gab noch andere merkwürdige Vorfälle. An die Einzelheiten kann ich mich nicht mehr erinnern, es ist zu lange her.«
»Hat sie diese Vorfälle festgehalten?«, fragte ich.
»Das weiß ich nicht.«
»Und sie hatte keine Ahnung, wer sie bedrohte und warum?« »Diesen Eindruck vermittelte sie zumindest.« Er schob seinen Stuhl zurück. Es war fast Mitternacht.
Als ich ihn zur Tür brachte, fiel mir plötzlich etwas ein. »Sparacino«, sagte ich. »Wie heißt er mit Vornamen?«
»Robert«, antwortete er.
»Mit der Abkürzung ›M‹ könnte er nicht gemeint sein, oder?« »Nein«, sagte er und schaute mich neugierig an.
Es folgte eine gespannte Pause.
»Fahr vorsichtig!«
»Gute Nacht, Kay«, erwiderte er zögernd.
Vielleicht war es nur Einbildung, aber einen Moment lang dachte ich, er würde mich küssen. Dann ging er entschlossen die Stufen hinunter, und ich war schon wieder im Haus, als ich ihn losfahren hörte.
Der folgende Morgen war fürchterlich hektisch. Fielding informierte uns in der Konferenz, dass wir fünf Autopsien durchzuführen hätten, unter anderem die eines »Treibers«, einer fast verwesten Wasserleiche aus dem Fluss, eine Aufgabe, die jeden von uns aufstöhnen ließ. Richmond hatte zwei eben Erschossene herübergeschickt, einen davon konnte ich noch erledigen, bevor ich losraste, um im John Marshall Court House bei der Gerichtsverhandlung eines anderen Schusswaffenmordes als Zeugin aufzutreten und anschließend mit einer meiner studentischen Hilfskräfte im Medical College zu Mittag zu essen. Während der ganzen Zeit versuchte ich angestrengt, Marks Besuch vollständig aus meinen Gedanken zu verbannen.
Aber je verzweifelter ich mich bemühte, nicht an ihn zu denken, desto mehr dachte ich an ihn. Er war vorsichtig. Er war stur. Es passte so gar nicht zu ihm, mit mir nach über zehn Jahren des Schweigens auf einmal wieder in Kontakt zu treten.
Am frühen Nachmittag gab ich schließlich auf und wählte Marinos Telefonnummer.
»Ich wollte eben bei Ihnen anrufen«, legte er los, bevor ich auch nur ein Wort herausgebracht hatte, »bin gerade am Losfahren. Können Sie mich in einer Stunde oder, sagen wir besser, in eineinhalb in Bentons Büro treffen?«
»Was soll das?« Ich hatte ihm noch nicht einmal gesagt, warum ich angerufen hatte.
»Ich bekomme endlich Beryls Akten in die Finger. Ich dachte, Sie würden gern dabei sein.«
Er legte auf, ohne sich zu verabschieden, wie er es immer tat.
Zur verabredeten Zeit fuhr ich die East Grace Street entlang und parkte an der ersten Parkuhr, die einen halbwegs vertretbaren Fußmarsch von meinem Ziel entfernt war. Das moderne zehnstöckige Bürogebäude ragte wie ein Leuchtturm aus einem tristen Meer von Ramschläden, die sich hochtrabend Antiquitätenhandlungen nannten, und kleinen, schmierigen Restaurants, deren Spezialitäten in Wirklichkeit keine waren. Merkwürdige Gestalten drückten sich auf den zerbröckelnden Gehsteigen herum.
Ich wies mich auf der Sicherheitswache in der Lobby aus und fuhr mit dem Aufzug in den fünften Stock. Am Ende des Gangs befand sich eine Holztür ohne Namensschild. Der Standort von Richmonds FBI-Einsatzbüro war eines der bestgehüteten Geheimnisse der Stadt. Es war so unauffällig wie ein Agent in Zivilkleidung. Ein junger Mann saß hinter einem Tisch, der die Hälfte der hinteren Wand einnahm, und blickte zu mir herüber, während er telefonierte. Er verdeckte mit einer Hand die Sprechmuschel und hob die Augenbrauen zu einem fragenden »Kann ich Ihnen helfen?«. Ich erklärte, warum ich hier war, und er bot mir einen Stuhl an.
Der Vorraum war klein und ausgesprochen maskulin eingerichtet. Die Polstermöbel waren aus kräftigem blauschwarzem Leder, und auf dem Kaffeetisch stapelten sich
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