Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
Sitzreihe, die ich ganz für mich hatte. Die nächsten eineinhalb Stunden lang schlürfte ich Chivas on the Rocks und versuchte zu lesen, aber meine Gedanken drifteten immer wieder fort wie die Wolken am sich verdunkelnden Himmel draußen vor dem ovalen Flugzeugfenster.
Ich wollte Mark wiedersehen. Ich wusste, dass es weniger aus beruflicher Notwendigkeit als aus einer Schwäche heraus war; einer Schwäche, die ich längst überwunden geglaubt hatte. Ich war zugleich begeistert und angeekelt von mir selbst. Ich traute ihm nicht, aber innerlich wünschte ich es mir so sehr. Er ist nicht mehr der Mark, den du einmal gekannt hast, und selbst wenn er es wäre, solltest du dich daran erinnern, was er dir angetan hat. Aber was auch immer meine Vernunft sagte, meine Gefühle weigerten sich, darauf zu hören.
Ich las zwanzig Seiten eines Romans, den Beryl Madison als »Adair Wilds« geschrieben hatte, aber als ich damit aufhörte, hatte ich keine Ahnung, was drinstand. Historische Romane sind nicht gerade meine Lieblingslektüre, und dieser hier war wahrlich alles andere als literaturpreisverdächtig. Beryls Stil war nicht schlecht, manchmal wirkte ihre Prosa fast hymnisch, aber die Handlung schleppte sich wie auf Krücken dahin. Es handelte sich um die Art von Romanen, die nach Schema F heruntergeschrieben werden. Ich fragte mich, was wohl geschehen wäre, wenn Beryl am Leben geblieben wäre. Hätte sie mit der Art von Literatur, die sie viel lieber geschrieben hätte, wohl auch Erfolg gehabt?
Auf einmal erklärte die Stimme des Piloten, dass wir in zehn Minuten landen würden. Die Stadt lag wie eine glitzernde Schalttafel direkt unter mir. Winzige Lichtpunkte krochen die Highways entlang, und von den Dächern der Wolkenkratzer blinkte es rot.
Ein paar Minuten später zog ich meine Reisetasche aus dem Gepäckfach und betrat durch die Passagierbrücke das Chaos von La Guardia. Als sich mir eine Hand auf die Schulter legte, erschrak ich fürchterlich und drehte mich um. Mark stand hinter mir und lächelte.
»Gott sei Dank«, sagte ich erleichtert.
»Wieso? Hast du mich für einen Handtaschenräuber gehalten?«, fragte er trocken.
»Wenn du einer wärest, würdest du jetzt nicht mehr auf deinen Beinen stehen«, entgegnete ich.
»Das glaube ich dir gern.« Er ging neben mir durch die Ankunftshalle.
»Ist das dein ganzes Gepäck?«
»Ja.«
»Gut.«
Am Ausgang nahmen wir ein Taxi, das ein bärtiger Sikh mit einem kastanienbraunen Turban auf dem Kopf steuerte. Sein Name war Munjar, wie ein an der Windschutzscheibe befestigtes Schild verriet. Er und Mark schrien sich so lange an, bis Munjar endlich verstanden hatte, wo wir hinwollten. »Ich hoffe, dass du noch nicht gegessen hast«, bemerkte Mark.
»Nichts außer ein paar gerösteten Mandeln ...« Ich fiel gegen seine Schulter, als das Taxi mit quietschenden Reifen die Spur wechselte.
»Nicht weit vom Hotel ist ein gutes Steakhaus«, sagte Mark laut. »Ich dachte, wir könnten gleich dort etwas essen, denn in dieser Stadt kenne ich mich überhaupt nicht aus.«
Ich wäre schon froh, wenn wir wenigstens erst einmal am Hotel angelangt wären, dachte ich. In diesem Moment setzte Munjar unaufgefordert zu einem Monolog an und erzählte, dass er in dieses Land gekommen sei, um zu heiraten. Für den Dezember seiseine Hochzeit geplant, obwohl er bisher noch keine Frau gefunden habe. Ferner informierte er uns, dass er erst seit drei Wochen Taxifahrer war und das Autofahren in Punjab gelernt habe, wo er im Alter von sieben Jahren bereits auf einem Traktor unterwegs gewesen sei.
Der Verkehr floss zäh dahin. Nur gelbe Taxis wirbelten wie tanzende Derwische in der Dunkelheit an den anderen Autos vorbei. Als wir endlich die Innenstadt erreicht hatten, sahen wir eine Menge Leute in Abendgarderobe, die vor der Carnegie Hall Schlange standen. Die hellen Lichter, die Pelzmäntel und dunklen Anzüge riefen alte Erinnerungen in mir wach. Mark und ich waren leidenschaftlich gern ins Theater, in die Oper und in Konzerte gegangen.
Das Taxi hielt am Omni Park Central Hotel, einem beeindruckenden Lichterturm an der Ecke Fifty-fifth Street und Seventh Avenue, ganz in der Nähe des Theaterviertels.
Mark trug meine Tasche, und ich folgte ihm in die elegante Lobby, wo er die Empfangsformulare ausfüllte und die Tasche auf mein Zimmer bringen ließ. Ein paar Minuten später gingen wir durch die schneidend kalte Nachtluft. Ich war froh, dass ich meinen Mantel mitgebracht hatte. Drei Blocks
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