Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
benutzte.
»Vielleicht könnten wir Hanowell dazu überreden, einmal einen Blick auf diese Fasern zu werfen, ganz besonders auf die orangefarbene«, schlug ich vor.
Roy Hanowell war Special Agent des FBI und beschäftigte sich in der Zentrale in Quantico mit Mikroanalysen. Seit er die Fasern im Williams-Fall untersucht hatte, wurde er von Behörden ausaller Welt mit Anfragen überschüttet und sollte so gut wie alles – von Kaschmirwolle bis zur Spinnwebe – für sie begutachten.
»Auch hier viel Glück«, sagte Joni noch einmal und genauso spöttisch.
»Könnten Sie ihn bitte anrufen?«, fragte ich.
»Ich bezweifle, dass er besonders gern etwas anschaut, was bereits untersucht wurde«, antwortete sie und fügte hinzu: »Sie wissen ja, wie die vom FBI oft sind.«
»Dann werden wir ihn zusammen anrufen«, beschloss ich.
Als ich in mein Büro zurückkam, wartete dort ein halbes Dutzend rosa Telefonmitteilungen auf mich. Eine davon fiel mir sofort auf. Es handelte sich um eine Nummer aus New York mit der Notiz: »Mark. Bitte sofort zurückrufen. Dringend.« Mir fiel nur ein Grund ein, aus dem Mark in New York sein konnte. Er traf sich dort bestimmt mit Beryls Anwalt, Sparacino. Warum nur interessierten sich Orndorff & Berger so sehr für den Mord an Beryl Madison?
Die Telefonnummer gehörte offensichtlich zu Marks Nebenstelle, denn gleich nach dem ersten Klingeln hob er den Hörer ab.
»Wann warst du das letzte Mal in New York?«, fragte er beiläufig.
»Wie bitte?«
»In genau vier Stunden geht ein Flug von Richmond hierher. Nonstop. Könntest du den erwischen?«
»Was soll das alles?«, fragte ich ruhig, aber mein Puls schlug auf einmal viel schneller.
»Ich halte es nicht für gut, die Einzelheiten am Telefon zu besprechen, Kay«, erwiderte er.
»Und ich halte es nicht für gut, nach New York zu kommen, Mark«, konterte ich.
»Bitte! Es ist wichtig. Du weißt, dass ich dich sonst nicht darum bitten würde.«
»Ich kann unmöglich ...«
»Ich war den ganzen Morgen bei Sparacino«, unterbrach ermich, während in meinem Inneren lang unterdrückte Gefühle gegen meine Entschlossenheit ankämpften. »Es gibt da einige neue Entwicklungen, die Beryl Madison und deine Behörde betreffen.«
»Meine Behörde?« Jetzt klang ich nicht mehr ungerührt. »Was könnte dein Gespräch mit meiner Behörde zu tun haben?« »Bitte«, wiederholte er, »bitte, komm her.«
Ich zögerte.
»Ich hole dich in La Guardia ab.« Marks Drängen durchkreuzte meine Rückzugsversuche. »Wir werden uns ein ruhiges Plätzchen suchen und miteinander reden. Den Flug habe ich bereits gebucht. Du musst nur noch dein Ticket am Check-in-Schalter abholen. Auch ein Hotelzimmer habe ich für dich reservieren lassen. Wie du siehst, habe ich mich um alles gekümmert.«
O Gott, dachte ich, als ich auflegte, und dann war ich auch schon im Büro von Rose.
»Ich muss noch heute Nachmittag nach New York«, erklärte ich in einem Ton, der keinen Raum für Fragen ließ. »Es geht um den Fall Beryl Madison, und ich werde mindestens bis morgen nicht mehr ins Büro kommen.« Ich wich ihrem Blick aus. Obwohl meine Sekretärin nichts von Mark wusste, befürchtete ich, dass mir meine Gefühle ins Gesicht geschrieben standen.
»Können Sie mir eine Telefonnummer geben, unter der Sie erreichbar sind?«, fragte Rose.
»Nein.«
Sie schlug den Terminkalender auf und überprüfte, welche Verabredungen sie absagen musste. Dabei sagte sie: »Die Times hat angerufen. Es geht da um ein Feature über Sie, das sie gern veröffentlichen würden.«
»Vergessen Sie’s«, antwortete ich gereizt. »Die wollen mich doch bloß über den Beryl-Madison-Fall aushorchen. Immer wenn ich es ablehne, über ein besonders brutales Verbrechen mit der Presse zu reden, will auf einmal jeder Reporter in der ganzen Stadt wissen, wo ich aufs College ging, ob ich einen Hund habe und wie ich zur Todesstrafe stehe. Von meiner Lieblingsfarbe übermeinen Lieblingsfilm und meine Leibspeise bis hin zu der Todesart, die ich für mich persönlich vorziehen würde, interessiert sie plötzlich alles an mir.«
»Ich werde absagen«, murmelte sie und griff nach dem Telefon.
Ich verließ das Büro zeitig genug, um noch nach Hause fahren, ein paar Dinge in eine Reisetasche werfen und mich durch den Berufsverkehr zum Flughafen quälen zu können. Wie Mark versprochen hatte, lag dort mein Ticket bereit. Er hatte erster Klasse gebucht, und weniger als eine Stunde später saß ich in einer
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