Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
Nummer stand nicht im Chicagoer Telefonbuch. Es gab dort fünf Mark James und drei M. James. Als ich zu Hause war, rief ich jede einzelne dieser Nummern an. Es war immer entweder eine Frau oder ein mir unbekannter Mann an der Strippe. Ich war so durcheinander, dass ich nicht schlafen konnte. Erst am nächsten Morgen dachte ich daran, Diesner anzurufen, den Chief Medical Examiner in Chicago, den Mark angeblich getroffen hatte.
Ich beschloss, möglichst direkt zur Sache zu kommen, und sagte zu Diesner nach den üblichen Höflichkeiten: »Ich suche Mark James, einen Anwalt aus Chicago. Ich nehme an, Sie kennen ihn.«
»James ...«, wiederholte Diesner nachdenklich. »Ich fürchte, der Name sagt mir nichts, Kay. Sie glauben, er sei Anwalt hier in Chicago?«
»Ja.« Mein Herz wurde schwer. »Bei Orndorff & Berger.«
»Also, Orndorff & Berger kenne ich. Eine sehr angesehene Kanzlei. Aber ich kann mich an keinen Mark James dort erinnern ...« Ich hörte, wie er eine Schublade aufzog und irgendwo herumblätterte. Nach einer langen Pause stellte Diesner fest: »Nein. Im Branchentelefonbuch steht er auch nicht.«
Nach dem Telefongespräch goss ich mir noch eine Tasse schwarzen Kaffee ein und schaute aus dem Küchenfenster auf das leere Vogelhaus. Der graue Morgen sah nach Regen aus. In der Stadt wartete ein Schreibtisch auf mich, für den ich bald einen Bulldozer benötigen würde.
Es war Samstag. Am Montag war ein Feiertag. Sicher war das Büro längst leer und meine Mitarbeiter im verlängerten Wochenende. Eigentlich hätte ich die Ruhe nutzen und meine Rückstände aufarbeiten sollen. Aber es war mir gleichgültig. Ich musste die ganze Zeit an Mark denken. Es schien mir auf einmal, als ob er gar nicht wirklich existierte, als wäre er nur Einbildung undTraum gewesen. Je mehr ich versuchte, mir einen Reim auf die Geschichte zu machen, desto mehr verhedderten sich meine Gedanken. Was, um alles in der Welt, ging da eigentlich vor?
Aus lauter Verzweiflung versuchte ich, von der Auskunft Robert Sparacinos Privatnummer zu bekommen, und war insgeheim erleichtert, dass er eine Geheimnummer hatte. Es wäre auch glatter Selbstmord gewesen, ihn anzurufen. Mark hatte mich angelogen. Dass er in Chicago lebe, bei Orndorff & Berger arbeite, dass er Diesner kenne – nichts davon stimmte! Die ganze Zeit hoffte ich, dass das Telefon klingeln und Mark mich anrufen würde. Ich putzte das Haus von oben bis unten, erledigte die Wäsche, bügelte, kochte Tomatensoße mit Fleischbällchen und sah meine Post durch.
Erst um fünf Uhr nachmittags klingelte das Telefon.
»Na, Doc? Hier spricht Marino«, begrüßte mich eine vertraute Stimme. »Ich möchte Sie ja nicht in Ihrem Wochenende stören, aber ich habe Sie zwei gottverdammte Tage lang gesucht. Ich wollte mich nur vergewissern, dass es Ihnen gutgeht.«
Marino spielte schon wieder Schutzengel.
»Ich habe da ein Videoband, das Sie sicher interessiert«, sagte er. »Ich dachte, ich könnte mal kurz bei Ihnen vorbeischauen, wenn Sie zu Hause sind. Haben Sie einen Videorecorder?«
Er wusste genau, dass ich einen hatte. Er hatte schon einmal mit Videobändern »vorbeigeschaut«.
»Was für ein Videoband?«, fragte ich.
»Von dem Penner, mit dem ich den ganzen Vormittag verbracht habe. Ich habe ihn zum Fall Beryl Madison befragt.« Er machte eine Pause. Ich wusste, dass er stolz auf sich war.
Je länger wir uns kannten, desto häufiger zog mich Marino ins Vertrauen. Teilweise führte ich das darauf zurück, dass er mir einmal das leben gerettet hatte. Dieses Ereignis hatte uns zu einem ungleichen Paar zusammengeschweißt.
»Sind Sie im Dienst?«, fragte ich.
»Verdammt, ich bin immer im Dienst«, brummte er.
»Im Ernst.«
»Nicht offiziell, okay? Seit vier habe ich Schluss, aber meine Frau ist in Jersey bei ihrer Schwester, und ich muss mir noch auf so viele offene Fragen einen Reim machen, dass ich mir schon wie ein Dichter vorkomme.«
Seine Frau war verreist. Seine Kinder erwachsen. Und heute war ein kalter, grauer Samstag. Marino wollte nicht nach Hause in sein leeres Haus. Ich selber fühlte mich in meinem leeren Haus auch nicht gerade glücklich und zufrieden. Ich dachte an den Topf mit Soße, der auf dem Herd vor sich hin köchelte.
»Ich habe nichts Besonderes vor«, sagte ich. »Kommen Sie ruhig mit Ihrem Videoband vorbei, und wir sehen es uns gemeinsam an. Mögen Sie Spaghetti?«
Er zögerte. »Nun ja ...«
»Mit Fleischbällchen. Ich bin gerade dabei, die Nudeln zu
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