Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
interessiert.«
»Jackson hatte wirklich zweiundfünfzig Dollar in seinen Taschen«, antwortete ich und war kurz davor, richtig wütend zu werden. »Er war stark verwest und das Geld so verrottet, dass nicht einmal der verzweifeltste Dieb es angefasst hätte. Ich weiß nicht, was damit passiert ist, aber es scheint so, dass das Geld versehentlich zusammen mit Jacksons gleichermaßen verfaulten und von Maden wimmelnden Kleidern verbrannt wurde.«
»Mein Gott!«, murmelte Mark.
»Ihre Dienststelle steckt offensichtlich in Schwierigkeiten, Dr. Scarpetta.« Sparacino lächelte.
»Jede Dienststelle hat ihre Schwierigkeiten«, fauchte ich und stand auf. »Wenn Sie etwas aus Beryl Madisons Besitz haben wollen, dann wenden Sie sich an die Polizei.«
»Es tut mir leid«, sagte Mark, als wir im Aufzug nach unten fuhren. »Ich hatte keine Ahnung, dass dir der Bastard mit diesem Mist kommen würde. Du hättest es mir erzählen sollen, Kay ...«
»Was?« Ich starrte ihm ungläubig ins Gesicht. »Was hätte ich dir erzählen sollen?«
»Die Geschichte von den verschwundenen Wertsachen, von dem ganzen Skandal. Das ist doch genau die Sorte von Dreck, in der Sparacino für sein Leben gern wühlt. Weil ich es nicht wusste, habe ich uns beide in seinen Hinterhalt geführt. Verdammt!«
»Ich habe es dir nicht erzählt«, entgegnete ich und wurde lauter, »weil es mit Beryls Fall nicht das Geringste zu tun hat. Beide Geschichten waren nur ein Sturm im Wasserglas. Das hausgemachte Chaos, das zwangsläufig ab und zu entsteht, wenn einem Leichen in jedem nur erdenklichen Zustand vor die Haustür gelegt werden und alle fünf Minuten jemand vom Bestattungsinstitut oder von der Polizei hereinschneit, um irgendwelche persönlichen Habseligkeiten abzuholen.«
»Jetzt werde doch bitte nicht wütend auf mich!«
»Ich bin nicht wütend auf dich.«
»Schau, ich habe dich vor Sparacino gewarnt. Ich versuche, dich vor ihm zu beschützen.«
»Ich bin mir nicht sicher, was du wirklich versuchst, Mark.« Wir redeten hitzig weiter, während er sich abzappelte, um ein Taxi herbeizuwinken. Der Verkehr war kurz vor dem totalen Stillstand. Hupen tuteten, Motoren brummten, und meine Nerven waren am Flattern. Endlich erschien ein Taxi, Mark öffnete die schwarze Tür und stellte meine Tasche auf den Boden. Als er, nachdem ich eingestiegen war, dem Fahrer ein paar Geldscheine in die Hand drückte, merkte ich, was los war. Mark fuhr nicht mit. Er schickte mich allein und ohne Lunch zurück zum Flughafen. Bevor ichdas Fenster herunterlassen und mit ihm sprechen konnte, fädelte sich das Taxi in den dichten Verkehr ein.
Ich fuhr schweigend nach La Guardia und hatte noch drei Stunden Zeit, bis mein Flugzeug startete. Ich war wütend, verletzt und verwirrt. Ich hasste solche Abschiede. In einer Bar fand ich einen leeren Stuhl, bestellte mir einen Drink und zündete eine Zigarette an. Ich schaute dem blauen Rauch zu, wie er aufstieg und in der dunstigen Luft verflog. Ein paar Minuten später steckte ich einen Vierteldollar in ein öffentliches Telefon.
»Orndorff & Berger«, meldete sich eine geschäftsmäßig klingende Frauenstimme.
Ich stellte mir den schwarzen Empfangstresen vor, als ich fragte: »Könnte ich bitte Mark James sprechen?«
Nach einer Pause antwortete die Frau: »Es tut mir leid, Sie müssen die falsche Nummer gewählt haben.«
»Er arbeitet bei Ihrer Kanzlei in Chicago und ist hier auf Besuch. Ich habe ihn heute Mittag in Ihrem Büro getroffen«, sagte ich.
»Können Sie einen Moment dranbleiben?«
Sie ließ mich etwa zwei Minuten lang eine zu seichtem Gedudel verunstaltete Version von Gerry Raffertys »Baker Street« hören.
»Es tut mir leid«, informierte mich die Empfangsdame, als sie wieder am Apparat war. »Hier gibt es niemanden mit diesem Namen.«
»Aber ich habe ihn doch vor weniger als zwei Stunden in Ihrer Empfangshalle getroffen«, sagte ich ungeduldig.
»Ich habe nachgefragt, Ma’am. Es tut mir leid, aber vielleicht haben Sie uns mit einer anderen Firma verwechselt.« Ich fluchte unhörbar und schmetterte den Hörer auf die Gabel. Dann rief ich die Auskunft an, ließ mir die Nummer von Orndorff & Berger in Chicago geben und den Anruf über meine Kreditkarte laufen. Ich wollte Mark ausrichten lassen, dass er mich so bald wie möglich anrufen solle. Das Blut gefror mir fast in den Adern, als die Empfangsdame in Chicago sagte: »Es tut mir leid, Ma’am, aber in dieser Kanzlei gibt es keinen Mark James.«
6
Marks
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