Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
zu einem Buch, das vermutlich längst erschienen ist. Die forensischen Untersuchungslabors sind eine eigenständige Dienststelle, die nur zufällig im gleichen Gebäude wie meine untergebracht ist.«
Ich schaute hinüber zu Mark. Sein Gesicht wirkte angespannt, und der Schweiß stand ihm auf der Stirn.
Leder knarrte, als sich Sparacino in seinem Stuhl bewegte. »Ich will ganz offen mit Ihnen sein, Dr. Scarpetta«, sagte er. »Ich glaube Ihnen nicht.«
»Ich kann nichts dafür, wenn Sie mir nicht glauben«, entgegnete ich sehr ruhig.
»Ich habe lange über die Sache nachgedacht«, fuhr er ebenso ruhig fort. »Die Geschichte ist doch die: Dieses Manuskript ist nur ein Haufen wertlosen Papiers, solange man nicht von seiner Bedeutung für gewisse Leute weiß. Ich kenne mindestens zwei Personen – Verleger nicht mit eingeschlossen –, die viel Geld für das Buch bezahlen würden, an dem Beryl arbeitete, bevor sie starb.«
»All das geht mich nichts an«, antwortete ich. »Meine Dienststelle hat dieses Manuskript nicht. Und, das füge ich ausdrücklich hinzu, hat es auch nie gehabt.«
»Irgendjemand muss es haben.« Er starrte aus dem Fenster. »Ich kannte Beryl besser als jeder andere. Ich kannte ihre Gewohnheiten, Dr. Scarpetta. Sie war längere Zeit verreist und erst seit ein paar Stunden wieder zu Hause, als sie ermordet wurde. Ich kann einfach nicht glauben, dass sie ihr Manuskript nicht bei sich gehabt hat, dass es weder in ihrem Arbeitszimmer noch in ihrer Aktentasche, noch in einem ihrer Koffer gewesen sein soll.« Die kleinen blauen Augen blickten mich wieder durchdringend an. »Sie hatte kein Bankschließfach und auch sonst keinen Aufbewahrungsortdafür, und außerdem wäre das sowieso nicht ihre Art gewesen. Sie nahm es mit, als sie verreiste, und hat daran gearbeitet. Sie muss das Manuskript bei sich gehabt haben, als sie nach Richmond zurückkehrte.«
»Sie war also längere Zeit verreist?«, wiederholte ich. »Woher wissen Sie das?«
Mark vermied es, mich anzuschauen.
Sparacino lehnte sich in seinem Stuhl zurück und faltete die Hände vor seinem dicken Bauch.
»Ich weiß, dass Beryl nicht zu Hause war«, erwiderte er. »Ich habe wochenlang versucht, sie erreichen. Vor etwa einem Monat schließlich rief sie mich an. Sie wollte mir nicht verraten, wo sie sich aufhielt, aber sie sagte, sie sei, Zitat: ›in Sicherheit‹, Zitat Ende. Sie berichtete ferner, dass das Buch Fortschritte mache und dass sie hart daran arbeite. Kurz und gut, ich habe ihr nicht nachspioniert. Beryl hatte Angst vor diesem Psychopathen und ist weggelaufen. Mir war es eigentlich egal, wohin, wenn sie nur fleißig arbeitete und ihren Abgabetermin einhielt. Das klingt vielleicht gefühllos, aber Geschäft ist Geschäft.«
»Wir wissen nicht, wo Beryl war«, erklärte mir Mark. »Anscheinend wollte Marino nichts dazu sagen.«
Sein Gebrauch der persönlichen Fürwörter verletzte mich. Mit »wir« hatte er sich und Sparacino gemeint.
»Wenn du willst, dass ich dir diese Frage beantworte ...«
» Ich will das«, mischte sich Sparacino ein. »Irgendwann wird es ja doch herauskommen, ob sie ihre letzten paar Monate in North Carolina, Washington, Texas oder wo auch immer verbracht hat, aber ich muss es jetzt wissen. Sie behaupten, Sie hätten das Manuskript nicht. Die Polizei sagt, bei ihr sei es auch nicht. Es gibt nur einen einzigen sicheren Weg, dieser Sache auf den Grund zu gehen, nämlich herauszufinden, wo sie sich zuletzt aufgehalten hat, und dort die Spur des Manuskripts aufzunehmen. Vielleicht hat jemand sie zum Flughafen gefahren. Vielleicht hat sie Freunde gefunden, wo auch immer sie war. Vielleicht hat irgendjemand eine Ahnung, was aus dem Buch geworden sein könnte.
Hat sie es zum Beispiel mit sich herumgetragen, als sie ins Flugzeug stieg?«
»Sie müssen sich diese Information schon von Lieutenant Marino holen«, antwortete ich. »Ich bin nicht befugt, Einzelheiten dieses Falles mit Ihnen zu erörtern.«
»Das habe ich mir gedacht«, sagte Sparacino. »Und zwar höchstwahrscheinlich deshalb, weil Sie ganz genau wissen, dass sie es tatsächlich im Flugzeug nach Richmond bei sich hatte, und weil es mit ihrer Leiche zu Ihnen geschickt wurde und jetzt verschwunden ist.«
Er hielt inne, seine kalten Augen schauten direkt in die meinen. »Wie viel haben Sie von Cary Harper, seiner Schwester oder von beiden dafür bekommen, dass Sie es ihnen ausgehändigt haben?«
Mark hatte anscheinend Sendepause. Sein Gesicht war
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