Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
Läden waren. Auf dem vor kurzem geräumten Parkplatz stand ein knappes Dutzend Autos mit dicken Schneehauben auf den Dächern. Erleichtert stellte ich fest, dass der Village Frame Shop & Gallery geöffnet hatte.
Marino stellte keine Fragen, als ich aus dem Wagen stieg. Er spürte vermutlich, dass ich momentan nicht in der Stimmung war zu antworten. In der Galerie hielt sich außer mir nur noch ein anderer Kunde auf, ein junger Mann in einem schwarzen Mantel, der lässig einen Stapel mit Drucken durchblätterte. Eine Frau mit langen blonden Haaren tippte hinter der Ladentheke auf einer Rechenmaschine herum.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte sie und sah höflich auf.
»Das kommt darauf an, wie lange Sie schon hier arbeiten«, erwiderte ich.
Die kühle, zweifelnde Art, mit der sie mich musterte, machte mir deutlich, dass ich vermutlich wirklich fürchterlich aussah. Ich hatte in meinem Mantel geschlafen, und meine Haare waren zerzaust. Als ich mir verunsichert eine widerspenstige Strähne glattstreichen wollte, bemerkte ich, dass ich irgendwo einen Ohrring verloren hatte. Ich stellte mich der Frau vor, und um der SacheNachdruck zu verleihen, zeigte ich ihr meine dünne schwarze Brieftasche mit meiner Medical-Examiner-Dienstmarke aus Messing.
»Ich arbeite hier seit zwei Jahren«, sagte sie.
»Es geht um ein Gemälde, das vermutlich vor Ihrer Zeit hier gerahmt wurde«, erklärte ich. »Ein Porträt, das vielleicht Cary Harper vorbeigebracht hat.«
»O Gott. Ich habe heute Morgen im Radio gehört, was ihm zugestoßen ist. O Gott, wie schrecklich«, sprudelte sie hervor. »Am besten sprechen Sie gleich mit Mr. Hilgeman.«
Sie verschwand nach hinten, um ihn zu holen.
Mr. Hilgeman war ein elegant aussehender Herr in einem Tweedjackett, der unmissverständlich verkündete: »Cary Harper ist schon seit Jahren nicht mehr in diesem Laden gewesen, und außerdem war er niemandem hier näher bekannt, soweit ich weiß.«
»Mr. Hilgeman«, sagte ich, »über dem Kaminsims in Cary Harpers Bibliothek hängt das Porträt eines blonden Mädchens. Es ist in Ihrem Laden gerahmt worden, möglicherweise schon vor vielen Jahren. Können Sie sich daran entsinnen?«
In den grauen Augen, die mich über die Ränder einer schmalen Lesebrille anblickten, erschien nicht der leiseste Funken einer Erinnerung.
»Es sieht sehr alt aus«, erklärte ich. »Eine gute Imitation, aber eine ziemlich merkwürdige Interpretation des Motivs. Das Mädchen ist neun oder zehn, höchstens zwölf, aber es ist eher angezogen wie eine junge Frau, in Weiß, und es sitzt auf einer schmalen Bank und hält eine silberne Haarbürste in seinen Händen.«
Ich hätte mir am liebsten einen tritt in den Hintern gegeben, weil ich kein Polaroidfoto von dem Bild gemacht hatte. Die Kamera war die ganze Zeit in meiner Arzttasche gewesen, und ich hatte nicht daran gedacht. Ich war zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt gewesen.
»Wissen Sie«, sagte Mr. Hilgeman, und jetzt leuchteten seine Augen auf, »ich glaube, ich erinnere mich an das Gemälde. Einsehr hübsches, aber ungewöhnliches Mädchen. Ja, ein ziemlich zweideutiges Bild, wenn ich mich recht entsinne.«
Ich drängte ihn nicht.
»Das muss mindestens fünfzehn Jahre her sein ... lassen Sie mich mal sehen.« Er legte einen Zeigefinger auf seine Lippen. »Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Das war ich nicht.«
»Sie waren es nicht?«, fragte ich. »Was waren Sie nicht?«
»Ich habe das Bild nicht gerahmt. Das muss Clara gemacht haben, eine Assistentin, die damals hier arbeitete. Ich glaube – oder besser, ich bin sicher –, dass Clara dieses Bild gerahmt hat. Es war eine ziemlich kostspielige, aufwendige Arbeit, die sich genau genommen eigentlich nicht gelohnt hat. Das Gemälde war nämlich nicht besonders gut. Im Grunde«, fügte er stirnrunzelnd an, »stellte es einen ihrer weniger erfolgreichen Versuche dar ...«
»Ihrer?«, unterbrach ich. »Meinen Sie Clara?«
»Ich spreche von Sterling Harper.« Er sah mich prüfend an. »Sie hat das Bild gemalt.« Er zögerte. »Vor vielen Jahren beschäftigte sie sich intensiv mit der Malerei. Sie hatte, soviel ich weiß, sogar ein Atelier im Haus. Ich selbst war allerdings nie dort. Aber sie hat uns damals einige ihrer Arbeiten gebracht, die meisten waren Stillleben oder Landschaften. Das Gemälde, nach dem Sie gefragt haben, ist, soviel ich weiß, ihr einziges Porträt.«
»Wann hat sie es gemalt?«
»Wie ich schon sagte, vor mindestens fünfzehn
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