Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
und Jura auf der Georgetown University. Mir war eigentlich nur schemenhaft bewusst, was ich tat. Der Tod meines Vaters kam mir wie ein schreckliches Verbrechen vor, und die Karriere, die ich eingeschlagen hatte, führte mich immer wieder an seinen Schauplatz zurück. Tausendmal nahm ich den Tod auseinander und setzte ihn wieder zusammen. Ich durchschaute seine Gesetze und stellte ihn vor Gericht. Ich lernte ihn in- und auswendig kennen. Aber all das brachte mir meinen Vater nicht wieder zurück, und das Kind in mir hörte niemals auf zu trauern.
Verglühte Scheite zerfielen im Kamin, während ich unruhig vor mich hin döste und ab und zu verstört aufschreckte.
Stunden später ließ die Morgendämmerung die Einzelheiten meines Gefängnisses in ihrem kalten blauen Licht neu entstehen. Mit Schmerzen im Rücken und steifen Beinen rappelte ich mich auf und ging langsam zum Fenster. Die Sonne schwebte wie ein fahles Ei über dem schiefergrauen Fluss, die kahlen Bäume standen schwarz vor dem Weiß des Schnees. Der Kamin war erloschen, und zwei Fragen pochten tief in meinem fiebernden Gehirn. Wäre Miss Harper auch dann gestorben, wenn ich nicht da gewesen wäre? Dass ich mich in ihrem Haus aufgehalten hatte, hatte es ihr leichter gemacht. Aber warum war sie hinunter in die Bibliothek gegangen? Ich vermutete, dass sie das Feuer noch einmal geschürt und sich auf das Sofa gesetzt und, als ihr Herz einfach aufgehört hatte zu schlagen, in die Flammen gestarrt hatte. Oder hatte sie, kurz bevor sie starb, noch einmal das Porträt über dem Kamin betrachtet?
Ich knipste alle Lampen an und schob einen Stuhl vor den Kamin.Ich stieg hinauf und nahm das sperrige Gemälde von seinem Haken. Aus der Nähe sah das Porträt gar nicht so beunruhigend aus, weil der Gesamteindruck in subtile Farbschattierungen und zarte Pinselstriche dicker Ölfarbe zerfiel. Staub stieg von der Leinwand auf, als ich vom Stuhl stieg und das Gemälde auf den Boden legte. Es trug weder eine Signatur noch ein Datum. Der Maler hatte es absichtlich in gedämpften Farben gemalt, damit es älter aussah, aber es zeigte nicht die kleinsten Anfänge von Sprüngen in der Oberfläche des Farbauftrags.
Ich drehte es um und untersuchte die Rückseite aus braunem Papier. In der Mitte sah ich den goldenen Aufkleber eines Rahmengeschäfts in Williamsburg. Ich notierte die Adresse, kletterte auf den Stuhl und hängte das Bild wieder an seinen Platz. Dann kniete ich mich vor den Kamin und stocherte mit einem Bleistift, den ich aus meiner Arzttasche genommen hatte, in der Asche herum. Über den verbrannten Holzstücken befand sich eine merkwürdige, filmartige Schicht weißer Asche, die zart wie Spinnweben war und beim kleinsten Windhauch davonwehte. Darunter lag ein Klumpen, der aussah wie geschmolzenes Plastik.
»Nehmen Sie’s mir nicht übel, Doc«, bemerkte Marino, als er seinen Wagen rückwärts vom Parkplatz fuhr, »aber Sie sehen fürchterlich aus.«
»Vielen Dank«, murmelte ich.
»Ich sagte schon, nehmen Sie’s mir nicht übel. Ich kann mir vorstellen, dass Sie kaum zum Schlafen gekommen sind.«
Als ich am Morgen nicht da war, um mich um Cary Harpers Autopsie zu kümmern, verschwendete Marino keine Zeit und rief die Polizei in Williamsburg an. Am frühen Vormittag erschien dann mit klappernden Schneeketten, die tiefe Spuren in den schweren, glatten Schnee fraßen, ein Wagen mit zwei einfältigen Polizeibeamten vor dem Haus. Nach ein paar deprimierenden Fragen zum Tod von Sterling Harper wurde ihre Leiche in einem Krankenwagen nach Richmond geschickt, und die beiden Polizisten lieferten mich in der Polizeizentrale von Williamsburg ab,wo ich mich mit Kaffee und Doughnuts herumquälte, bis Marino kam und mich abholte.
»Also ich wäre auf gar keinen Fall die ganze Nacht in diesem Haus geblieben«, fuhr Marino fort. »Und wenn es draußen dreißig Grad minus gehabt hätte. Lieber würde ich mir den Arsch abfrieren, als eine Nacht mit einer Toten ...«
»Wissen Sie, wo die Princess Street ist?«, unterbrach ich ihn. »Warum?« Seine verspiegelte Sonnenbrille drehte sich in meine Richtung.
Der Schnee glitzerte in der Sonne wie weißes Feuer, aber auf den Straßen verwandelte er sich bereits in Matsch.
»Ich interessiere mich für die Princess Street Nummer 507«, antwortete ich in einem Tonfall, der ihm keine andere Wahl ließ, als mich dorthin zu fahren. Die Straße lag beim Merchants’ Square am Rand der historischen Altstadt, wo auch noch einige andere
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