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Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman

Titel: Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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Marino. Menschen, die unter einem Schock stehen, reagieren auf nichts angemessen.« »Glauben Sie, dass sie Selbstmord begangen hat?«
    »Das wäre schon möglich«, erwiderte ich.
    »Haben Sie irgendwelche Drogen gefunden?«
    »Nur ein paar frei verkäufliche Medikamente, von denen keines hätte tödlich wirken können.«
    »Keine Verletzungen?«
    »Zumindest keine sichtbaren.«
    »Woran, in drei Teufels Namen, ist sie dann gestorben?«, fragte er und schaute zu mir herüber. Sein Gesicht sah hart aus. »Nein«, antwortete ich. »Im Moment habe ich überhaupt keine Ahnung.«
    »Vermutlich fahren Sie jetzt zurück nach Cutler Grove«, sagte ich zu Marino, als er hinter meinem Büro parkte.
    »Ja, ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen«, knurrte er. »Aber Sie sollten heimgehen und sich mal richtig ausschlafen.«
    »Vergessen Sie nicht, Cary Harpers Schreibmaschine unter die Lupe zu nehmen.«
    Marino kramte in seiner Hosentasche nach dem Feuerzeug. »Marke, Modell und alle gebrauchten Farbbänder«, erinnerte ich ihn.
    Er zündete eine Zigarette an.
    »Und jedes Schreib- oder Briefpapier im Haus. Ich schlage vor, dass Sie selbst die Asche aus dem Kamin sicherstellen. Es wird ausgesprochen schwierig sein, sie nicht zu zerstören ...«
    »Seien Sie mir nicht böse, Doc, aber Sie klingen genau wie meine Mutter.«
    »Marino«, fauchte ich, »ich meine es ernst!«
    »Ja, ja, Sie meinen es ernst, das habe ich verstanden. Und ebenso ernsthaft brauchen Sie jetzt dringend ein paar Stunden Schlaf«, entgegnete er.
    Marino war so frustriert wie ich und benötigte seinen Schlaf vermutlich ebenso dringend. In der Leichenhalle fiel mir das nervtötende, elektrische Summen der Generatoren auf, das ich sonst während der Arbeitszeit kaum bemerkte. Das Geräusch, mit dem mir die übelriechende Luft entgegenströmte, als ich den Kühlraum betrat, erschien mir heute ungewöhnlich laut.
    Die beiden Leichen waren auf Rollbahren gebettet, die man nebeneinander an die Rückwand geschoben hatte. Vielleicht lag es nur an meiner Müdigkeit, aber als ich das Laken von Sterling Harper zurückschlug, wurden meine Knie auf einmal weich, und meine Arzttasche fiel mir auf den Boden. Ich dachte an ihr schöngeschnittenes Gesicht und den Schrecken in ihren Augen, als sie die Hintertür des Hauses öffnete und mich über ihren toten Bruder gebeugt sah, mit Handschuhen, die hellrot von seinem Blut waren. Alles, was ich wissen wollte, war, dass Bruder und Schwester hier ordentlich eingetragen waren. Sanft deckte ich Sterling Harper wieder zu, zog das Laken über ein Gesicht, das jetzt so leer war wie eine Gummimaske. Um mich herum schauten überall nackte Füße mit Zetteln an den Zehen unter den Laken hervor.
    Als ich den Kühlraum betrat, hatte ich die gelbe Filmschachtel unter Sterling Harpers Rollbahre zuerst nicht wahrgenommen. Aber jetzt, als ich mich bückte, um meine Tasche aufzuheben, fiel sie mir auf einmal ins Auge. Es war eine Filmschachtel der Marke Kodak, Kleinbild, 24 Bilder. Von der Staatlichen Beschaffungsstelle erhielt meine Dienststelle Fuji-Filme, und zwar mit 36 Aufnahmen. Als die Sanitäter Miss Harpers Leiche vor vielen Stunden hierhergebracht hatten, hatten sie bestimmt keine Fotos gemacht.
    Ich kehrte zurück in den Gang, und dort fiel mir auf, dass etwas mit der Leuchtanzeige über der Aufzugtür nicht ganz in Ordnung war. Der Aufzug hielt plötzlich im zweiten Stock. Es musste noch jemand außer mir im Gebäude sein! Wahrscheinlich war es der Wachmann auf seinem Rundgang. Meine Kopfhaut begann auf einmal zu jucken, und ich dachte wieder an die leere Filmschachtel.Ich nahm meine Tasche fest in die Hand und beschloss, die Treppe zu nehmen. Im zweiten Stock angelangt, öffnete ich langsam die Tür des Treppenhauses und horchte, bevor ich weiterging. Die Büros im Ostflügel waren dunkel und leer. Ich ging nach rechts in den Hauptkorridor, vorbei am leeren Hörsaal, der Bibliothek und an Fieldings Büro. Ich hörte und sah niemanden. Als ich mein Büro betrat, beschloss ich dennoch, vorsichtshalber den Sicherheitsdienst anzurufen.
    Dann sah ich ihn, und mir stockte der Atem. Einen schrecklichen Moment lang war ich nicht mehr in der Lage zu denken. Er blätterte geschickt und leise durch den Inhalt eines offenen Karteikastens. Der Kragen seiner Marinejacke war bis zu seinen Ohren hochgeschlagen, die Augen verbargen sich hinter einer dunklen Pilotenbrille, und an den Händen trug er Gummihandschuhe. Über einer seiner breiten

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