Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
FBI-Agenten trugen Blau und Khaki, und Mitglieder der Elite-Teams zur Geiselbefreiung waren ganz in Weiß. Alle, Männer wie Frauen, sahen tadellos gepflegt und auffallend durchtrainiert aus. Sie legten ein militärisch-zurückhaltendes Gebaren an den Tag, das man förmlich riechen konnte, wie den Hauch von Gewehrreinigungsöl, der sie ständig begleitete.
Wir bestiegen einen Lastenaufzug, und Marino drückte den Knopf für das unterste Kellergeschoss. J. Edgar Hoovers geheimer Atombunker befand sich zwanzig Meter tief unter der Erde, zwei Stockwerke unter dem ins Gebäude integrierten Schießstand. Es schien mir immer irgendwie passend, dass die Akademie ihre Profiler näher an der Hölle als am Himmel untergebracht hatte. Ihre offiziellen Bezeichnungen wechselten häufig. Im Moment wurden sie, soweit ich informiert war, »Criminal Investigative Agents« genannt, aber die Abkürzung CIA sorgte sicher für einige Verwirrung. Die Arbeit dieser Wissenschaftler hingegen blieb immer die gleiche, solange es Psychopathen, Soziopathen und Lustmörder gab, oder wie auch immer man schlechte Menschen nennen will, denen es Vergnügen bereitet, anderen unvorstellbare Schmerzen zuzufügen.
Wir stiegen aus dem Aufzug und gingen einen tristen Gang entlang in ein ebenso tristes Bürozimmer. Wesley kam und führte uns in ein kleines Konferenzzimmer, wo Roy Hanowell an einem langen, glänzenden Tisch saß. Der Experte für Textilfasern tat wie üblich so, als kenne er mich nicht, obwohl wir uns schon mehrere Male begegnet waren. Wie jedes Mal, wenn er mir die Hand hinstreckte, stellte ich mich ihm demonstrativ vor.
»Ach, natürlich, natürlich, Dr. Scarpetta. Wie geht es Ihnen?«, fragte er, genau so, wie er es jedes Mal tat.
Wesley schloss die Tür, Marino sah sich um und maulte, weil er keinen Aschenbecher fand. Also musste eine leere Dose Cola light für diesen Zweck herhalten. Ich widerstand dem Impuls, meine eigene Schachtel hervorzukramen. In der Akademie war Rauchen etwa so erwünscht wie auf einer Intensivstation.
Wesleys weißes Hemd war am Rücken verknittert, und als er einige Papiere in einem Aktendeckel durchsah, blickten seine Augen müde und abwesend. Er kam sofort zur Sache. »Gibt es etwas Neues über Sterling Harper?«, fragte er.
Als ich gestern die histologischen Proben gesehen hatte, war ich weder übermäßig überrascht gewesen, noch war ich der Erklärung für ihren plötzlichen Tod auch nur einen Schritt nähergekommen.
»Sie litt an chronischer Knochenmarksleukämie«, antwortete ich.
Wesley blickte auf. »Die Todesursache?«
»Nein. Um ehrlich zu sein, ich bin mir nicht einmal sicher, dass sie selbst es wusste.«
»Ist ja interessant«, bemerkte Hanowell. »Man kann also Leukämie haben, ohne dass man es merkt?«
»Der Ausbruch chronischer Leukämie verläuft schleichend«, erklärte ich. »Die Symptome können harmlos sein. Es ist natürlich auch möglich, dass bei Sterling Harper die Krankheit schon vor einiger Zeit diagnostiziert wurde und sich in einer ruhigen Phase befand. Zumindest befand sie sich nicht in einer akuten Krise. Sie hatte keine progressiven leukämischen Infiltrationen und litt auch an keiner erkennbaren Infektion.«
Hanowell sah verwirrt aus. »Woran ist sie denn dann gestorben?«
»Das weiß ich nicht«, musste ich zugeben.
»Drogen, Medikamente?«, fragte Wesley, der sich Notizen machte.
»Das toxikologische Labor fängt gerade mit der zweiten Testphase an«, antwortete ich. »Die ersten Untersuchungen haben einen Blutalkohol von 0,03 Promille ergeben. Außerdem haben wir Dextromethorphan, eine hustenstillende Substanz, die in vielen frei verkäuflichen Hustenmitteln enthalten ist, gefunden. Wir haben eine Flasche Robitussin-Hustensaft über dem Waschbecken in ihrem Badezimmer entdeckt. Sie war noch mehr als halb voll.«
»Also daran kann sie nicht gestorben sein«, murmelte Wesley vor sich hin.
»Nicht einmal am Inhalt der ganzen Flasche wäre sie gestorben«, erklärte ich ihm. »Die Geschichte ist rätselhaft, das gebe ich zu.«
»Halten Sie mich auf dem Laufenden? Informieren Sie mich bitte, wenn Sie mehr über ihren Tod wissen«, bat Wesley. Er blätterte ein paar Seiten weiter und kam zum nächsten Punkt auf seiner Tagesordnung. »Roy hat die Fasern im Fall Beryl Madison untersucht, und darüber wollten wir gern mit Ihnen reden. Und außerdem, Pete und Kay« – er sah uns an –, »gibt es da noch eine Sache, die ich mit Ihnen besprechen muss.«
Wesley sah
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