Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
nicht mehr.«
»Wie steht es mit seinem Verkehrssündenregister?« Wesley schrieb immer noch mit.
»Keine Strafzettel. Er hat einen 89er BMW auf seinen Namen und seine Adresse in Washington zugelassen. Er wohnte dort in einem Apartment in der Florida Avenue, aus dem er im letzten Winter anscheinend ausgezogen ist. Die Leasingfirma hat mir seinen alten Vertrag gezeigt. Darin hat er seinen Beruf als Selbständiger angegeben. Aber das überprüfe ich noch. Ich werde mir vom Finanzamt seine Steuererklärungen der letzten fünf Jahre geben lassen.«
»Ist er vielleicht ein Privatdetektiv?«, fragte ich.
»Nicht in Washington«, antwortete Marino.
Wesley sah mich an und sagte: »Irgendjemand hat ihn angeheuert. Wozu, das wissen wir immer noch nicht. Aber er hat ganz klar versagt. Wer auch immer hinter ihm steckt, wird es vielleicht noch mal versuchen. Ich möchte nicht, dass Sie beim nächsten Mal in die Falle gehen, Kay.«
»Ich möchte das ebenso wenig, das brauche ich wohl nicht extra zu betonen.«
»Ich will doch nur«, fuhr er fort wie ein besorgter Vater, der Klartext redet, »dass Sie sich möglichst keiner unnötigen Gefahr aussetzen. Zum Beispiel halte ich es für keine so gute Idee, dassSie sich in Ihrem Büro aufhalten, wenn niemand mehr außer Ihnen im Gebäude ist. Ich meine damit nicht nur die Wochenenden. Wenn Sie bis sechs oder sieben Uhr abends arbeiten und alle anderen schon heimgegangen sind, ist es vielleicht nicht ganz ungefährlich, über den stockdunklen Parkplatz zu Ihrem Wagen zu gehen. Vielleicht könnten Sie schon um fünf Schluss machen, wenn noch genügend Leute da sind, die Sie sehen und hören können?«
»Ich werde dran denken«, sagte ich.
»Und wenn Sie wirklich erst später gehen können, Kay, rufen Sie doch bitte den Wachmann an, und bitten Sie ihn, Sie zu Ihrem Auto zu begleiten«, fuhr Wesley fort.
»Ach was, rufen Sie einfach mich an«, beeilte sich Marino vorzuschlagen. »Sie haben doch die Nummer von meinem Pager. Wenn ich nicht erreichbar bin, dann sagen Sie der Zentrale, dass sie einen Wagen vorbeischicken soll.«
Toll, dachte ich. Wenn ich Glück hätte, würde ich dann um Mitternacht zu Hause sein.
»Seien Sie einfach äußerst vorsichtig.« Wesley sah mich scharf an. »Von allen Theorien einmal abgesehen, wurden immerhin zwei Menschen umgebracht. Und der Killer ist immer noch irgendwo da draußen. Seine Wahl der Opfer und seine Motive erscheinen mir so ungewöhnlich, dass ich alles für möglich halte.«
Auf der heimfahrt kamen mir seine Worte mehr als einmal wieder ins Gedächtnis. Wenn alles möglich ist, dann ist auch nichts unmöglich. Eins und eins ist nicht drei. Oder doch? Sterling Harpers Tod erschien mir nicht in dieselbe Gleichung zu passen wie der Tod ihres Bruders und der von Beryl. Aber was, wenn er trotzdem passte?
»Sie haben gesagt, dass Miss Harper in der Nacht, in der Beryl umgebracht wurde, verreist war«, sagte ich zu Marino. »Wissen Sie inzwischen mehr darüber?«
»Nein.«
»Wo immer sie auch war, glauben Sie, dass sie mit dem Auto dorthin gefahren ist?«
»Nein. Die Harpers haben nur ein Auto, diesen weißen Rolls, und den fuhr in der Nacht von Beryls Tod ihr Bruder.«
»Wissen Sie das sicher?«
»Ich habe in Culpeper’s Tavern gefragt«, erzählte er. »Harper kam an diesem Abend zur üblichen Zeit. Fuhr vor, wie er es immer tat, und ging erst gegen sechs Uhr dreißig wieder.«
Im Licht der jüngsten Ereignisse war wohl niemand besonders erstaunt, als ich am Montag in der Konferenz verkündete, dass ich meinen Jahresurlaub nehmen wolle.
Man nahm an, dass mich der Zwischenfall mit Jeb Price so sehr gestresst hatte, dass ich einfach mal wegfahren, mich sammeln und meinen Kopf eine Zeitlang in den Sand stecken wollte. Ich sagte niemandem, wohin ich mich begeben würde, denn ich wusste es selbst nicht. Ich ging am Vormittag einfach aus dem Büro und ließ eine insgeheim erleichterte Sekretärin und einen Schreibtisch zurück, der unter seiner Last fast zusammenbrach.
Zu Hause verbrachte ich den ganzen Nachmittag am Telefon und rief jede Fluggesellschaft an, die Flüge vom Richmonder Byrd Airport, der für Sterling Harper am bequemsten zu erreichen war, anbot.
»Ja, ich weiß, dass es zwanzig Prozent Aufschlag kostet«, sagte ich dem Mann an der telefonischen Flugkartenbuchung von American Airlines, »aber Sie haben mich missverstanden. Ich will kein Ticket stornieren. Es handelt sich um einen Flug, der ein paar Wochen
Weitere Kostenlose Bücher