Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
Aussage machen wollen?«
Er wurde rot und schaute nervös auf seine Hände.
»Was ich zu berichten habe, ist nicht unbedingt eine Aussage im Sinne der Polizei«, meinte er. »Ich hatte gehofft, dass Sie das vielleicht verstehen würden.«
»Warum glauben Sie das? Sie kennen mich doch gar nicht«, antwortete ich.
»Sie haben Beryl untersucht. In der Regel haben Frauen mehr Einfühlungsvermögen als Männer«, sagte er.
Vielleicht war es wirklich so einfach. Vielleicht war Al Hunt hier, weil er glaubte, dass ich ihn nicht demütigen würde.
Jetzt starrte er mich an, und in seinem verletzten, verlassenen Blick konnte ich erste Anzeichen einer aufkommenden Panik entdecken.
Er fragte: »Haben Sie schon einmal etwas ganz sicher gewusst, Dr. Scarpetta, ohne dass Sie dafür auch nur den kleinsten Beweis hatten?«
»Ich bin keine Hellseherin, wenn Sie das meinen«, antwortete ich.
»Jetzt reden Sie wie eine Wissenschaftlerin.«
»Ich bin Wissenschaftlerin.«
»Aber Sie kennen das Gefühl«, sagte er beharrlich, und ich konnte Verzweiflung in seinen Augen erkennen. »Sie wissen ganz genau, was ich meine, oder?«
»Ja«, gestand ich, »ich glaube, ich weiß, was Sie meinen, Al.«
Er schien erleichtert zu sein und atmete tief durch. »Ich weiß manche Sachen einfach, Dr. Scarpetta. Ich weiß, wer Beryl umgebracht hat.«
Ich reagierte nicht.
»Ich kenne ihn, kenne seine Gedanken, Gefühle, und ich weiß, warum er es getan hat«, fuhr er bewegt fort. »Wenn ich es Ihnenverrate, dann müssen Sie mir versprechen, vorsichtig damit umzugehen, es ernsthaft zu überdenken und nicht ... Nun, ich möchte nicht, dass Sie damit zur Polizei laufen, denn die würde es nicht verstehen. Das ist Ihnen doch klar, oder?«
»Ich werde alles, was Sie mir sagen, sehr sorgfältig überdenken«, erwiderte ich.
Er beugte sich auf der Couch nach vorn, und die Augen leuchteten in seinem Gesicht, das aussah, als habe El Greco es gemalt. Ich griff mit meiner rechten Hand instinktiv an die Hosentasche und spürte den gummiarmierten Griff des Revolvers.
»Die Polizei versteht schon jetzt nichts mehr«, behauptete er. »Niemand dort ist in der Lage, mich zu verstehen. Warum ich mit der Psychologie aufgehört habe, zum Beispiel. Die Polizei kapiert das einfach nicht. Ich habe den Magister gemacht. Und dann? Dann habe ich als Krankenpfleger gearbeitet, und jetzt bin ich in einer Waschstraße beschäftigt. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass die bei der Polizei so was verstehen, oder?«
Ich antwortete nicht.
»Als Junge habe ich davon geträumt, einmal Psychologe, Sozialarbeiter oder vielleicht sogar Psychiater zu werden«, fuhr er fort. »Es erschien mir die natürlichste Sache der Welt zu sein, dass ich einen dieser Berufe ergreifen würde. Alle meine Begabungen wiesen in diese Richtung.«
»Aber Sie sind es dann doch nicht geworden«, erinnerte ich ihn. »Warum?«
»Weil es mich zerstört hätte«, antwortete er und wandte seine Augen ab. »Ich habe keine Kontrolle darüber, was mit mir geschieht. Ich identifiziere mich so sehr mit den Problemen und psychischen Störungen anderer Leute, dass meine eigene Persönlichkeit dabei verlorengeht und verkümmert. Ich wusste nicht, wie dramatisch das war, bis ich eine Zeitlang in der geschlossenen Abteilung mit kriminellen Geisteskranken arbeitete. Äh, es war ein teil meiner Untersuchungen für meine Magisterarbeit.« Er wurde zunehmend zerstreuter. »Niemals werde ich Frankie vergessen. Frankie war ein paranoider Schizophrener, der seine Muttermit einem Holzscheit aus dem Kamin erschlagen hatte. Mit der Zeit lernte ich Frankie besser kennen. Ganz behutsam ging ich mit ihm zusammen Schritt für Schritt sein bisheriges leben durch, bis wir schließlich zu diesem verhängnisvollen Winternachmittag kamen. Ich sagte zu ihm: ›Frankie, welche Kleinigkeit hat dich dazu gebracht? Was war der Auslöser? Weißt du noch, was dir damals durch den Kopf ging?‹ Er erzählte, dass er in seinem gewohnten Stuhl vor dem Feuer gesessen und zugesehen habe, wie es niederbrannte, als sie ihm plötzlich etwas zugeflüstert hätten. Schreckliche, gemeine Dinge. Als seine Mutter hereinkam, schaute sie ihn genauso an wie immer, aber dieses Mal sah er etwas in ihren Augen. Die Stimmen wurden so laut, dass er nicht mehr klar denken konnte, und dann war er auf einmal nass und klebrig, und sie hatte kein Gesicht mehr. Erst als die Stimmen verstummten, kam er wieder zu sich. Nach dieser Unterredung konnte ich nächtelang
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