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Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman

Titel: Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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nicht schlafen. Immer, wenn ich die Augen schloss, sah ich den weinenden Frankie, an dem das Blut seiner Mutter klebte. Ich verstand ihn. Ich konnte auch verstehen, was er getan hatte. Ich sprach noch mit anderen Kranken, und jede Geschichte, die ich hörte, berührte mich auf dieselbe Weise.«
    Ich saß ruhig da. Ich hatte meine Phantasie abgeschaltet und bewusst die Maske der Wissenschaftlerin, der Ärztin aufgesetzt.
    Ich fragte ihn: »Haben Sie jemals das Gefühl gehabt, dass Sie jemanden umbringen wollten, Al?«
    »Jeder verspürt irgendwann einmal dieses Gefühl«, entgegnete er, als sich unsere Blicke trafen.
    »Jeder? Glauben Sie das wirklich?«
    »Ja. Jeder Mensch hat die Anlage dazu. Ganz bestimmt.«
    »Bei wem hatten Sie das Gefühl, dass Sie ihn umbringen könnten?«, fragte ich weiter.
    »Ich besitze keine Pistole oder irgendetwas anderes, das, äh, gefährlich ist«, antwortete er. »Ich will nicht in eine Situation geraten, in der ich einem plötzlichen Impuls nachgeben könnte. Wenn man sich erst einmal vorstellen kann, dass man etwas tut, wenn man versteht, was für ein Mechanismus hinter einem Verbrechensteckt, dann ist der Damm gebrochen. Es kann passieren. Praktisch jede Abscheulichkeit, die in dieser Welt geschieht, wurde zuerst gedacht. Wir sind nicht ausschließlich gut oder böse.« Seine Stimme zitterte. »Sogar die, die wir zu Verrückten abstempeln, haben für ihre taten ihre ganz persönlichen Gründe.«
    »Was war der Grund für das, was mit Beryl geschah?«, fragte ich.
    Meine Gedanken waren präzise, und ich äußerte sie klar. Und doch war mir schlecht, und ich versuchte die Bilder zu vertreiben, die ich auf einmal sah, die schwarzen Flecken an den Wänden, Beryls mit Stichwunden übersäte Brust und ihre Bücher, die sauber aufgereiht in der Bibliothek standen und darauf warteten, dass jemand sie las.
    »Die Person, die das getan hat, hat sie geliebt«, sagte er.
    »Ein ziemlich brutaler Weg, seine liebe zu beweisen, meinen Sie nicht auch?«
    »Liebe kann brutal sein«, meinte er.
    »Haben Sie sie geliebt?«
    »Wir waren uns sehr ähnlich.«
    »Inwiefern?«
    »Wir waren beide irgendwie aus der Bahn geworfen.« Er studierte wieder seine Hände. »Allein, sensibel und missverstanden. Eigentlich weiß ich nichts über sie, ich meine, niemand hat mir jemals etwas von ihr erzählt. Aber ich spürte ihr innerstes Wesen. Ich erkannte intuitiv, dass sie genau wusste, wer sie war und wie wertvoll sie war. Aber sie war auch zutiefst verärgert über den Preis, den sie für ihr Anderssein zahlen musste. Sie war verletzt. Ich weiß nicht, wodurch. Irgendjemand musste ihr schrecklich weh getan haben. Deshalb wollte ich mich um sie kümmern. Ich wollte ihr näherkommen, weil ich wusste, dass ich sie verstehen würde.«
    »Warum haben Sie sich ihr nicht genähert?«, fragte ich.
    »Die Umstände verhinderten das. Vielleicht wäre alles anders gewesen, wenn ich sie irgendwo anders getroffen hätte«, antwortete er.
    »Erzählen Sie mir etwas von Beryls Mörder, Al«, sagte ich. »Hätte er sich ihr genähert, wenn die Umstände günstig gewesen wären?«
    »Nein.«
    »Nein?«
    »Die Umstände wären für ihn niemals günstig, denn er stand nicht auf ihrer Stufe und wusste das auch«, erwiderte Hunt. Seine plötzliche Verwandlung war beunruhigend. Jetzt nahm er die Rolle des Psychologen ein. Seine Stimme klang ruhiger. Er konzentrierte sich sehr stark, die Hände in seinem Schoß zu Fäusten geballt.
    Er sagte: »Er hat eine sehr schlechte Meinung von sich selbst und ist nicht in der Lage, Gefühle auf eine konstruktive Art auszudrücken. Und dann wird Anziehung zur Besessenheit, und Liebe wird krankhaft. Was er liebt, muss er besitzen, denn er fühlt sich so unsicher und wertlos und lässt sich so leicht einschüchtern. Wenn seine geheime Liebe nicht erwidert wird, wird seine Besessenheit immer stärker. Er fixiert sich so sehr darauf, dass seine Fähigkeit, zu reagieren und zu funktionieren, eingeschränkt wird. Es ist wie bei Frankie, wenn er die Stimmen hört. Etwas, das nicht er selbst ist, treibt ihn. Er hat sich nicht mehr unter Kontrolle.«
    »Ist er intelligent?«, fragte ich.
    »Ziemlich.«
    »Wie steht es mit seiner Bildung?«
    »Seine Probleme gestatten ihm nicht, das zu tun, wozu er rein intellektuell fähig wäre.«
    »Warum gerade sie?«, fragte ich. »Warum hat er sich ausgerechnet Beryl Madison ausgesucht?«
    »Sie ist frei und berühmt, er ist beides nicht«, entgegnete Al Hunt mit

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