Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
emotional«, antwortete Hunt.
»Von wem?«
Hunts Augen waren immer noch geschlossen. »Von seiner Mutter. Als er Beryl tötete, tötete er auch seine Mutter.«
»Lesen Sie manchmal Bücher über forensische Psychiatrie, Al? Haben Sie das, was Sie mir erzählen, irgendwo gelesen?«
Er öffnete die Augen und starrte mich an, als habe er das, was ich gefragt hatte, überhaupt nicht gehört.
Dann fuhr er emotionsgeladen fort: »Sie müssen in Rechnung stellen, wie oft er sich diesen Augenblick vorgestellt hat. Seine Tat geschah nicht im Affekt in dem Sinne, dass er ohne jede Vorplanung zu ihrem Haus gerannt wäre. Der Zeitpunkt war vielleicht affektgesteuert, aber sonst hatte er sich alles bis ins kleinste Detail bereits ausgemalt. Er konnte es sich auf keinen Fall leisten, sie zu erschrecken und deshalb nicht ins Haus gelassen zu werden. Dann wäre das Spiel ja vorbei gewesen. Sie hätte die Polizei angerufen und ihr eine Beschreibung von ihm gegeben. Und selbst wenn man ihn nicht gefasst hätte, wäre seine Tarnung doch zerstört gewesen, und er wäre nie mehr in ihre Nähe gekommen. Er hatte sich bestimmt einen hundertprozentig sicheren Plan ausgedacht, um nicht ihren Argwohn zu erregen. Als er in jener Nacht vor ihrer Tür stand, muss er ihr vertraueneinflößend erschienen sein. Und sie ließ ihn herein.«
Im Geiste sah ich den Mann in Beryls Diele, aber ich konnte weder Gesicht noch Haarfarbe erkennen, bloß eine unbestimmte Gestalt und eine lange, glänzende Klinge aus Stahl, die er in der Hand hielt.
»Ab diesem Zeitpunkt weiß er nichts mehr«, fuhr Hunt fort. »Er kann sich nicht mehr erinnern, was danach geschah. Ihre Panik und ihre Angst sind nicht angenehm für ihn. Diesen Teil des Rituals hatte er nicht vollständig durchdacht. Als sie loslief und versuchte, ihm zu entkommen, und als er die panische Furcht in ihren Augen sah, wusste er auf einmal, wie sehr sie ihn ablehnte. Er erkannte, wie schrecklich das war, was er tat, und seine Verachtung für sich selbst verwandelte sich in eine Verachtung für Beryl. Verwandelte sich in Raserei. Er konnte Beryl nicht besitzen, weil er selbst zum Tier wurde. Zum Killer. Zum Schlächter. Zum hirnlosen Wilden, der nur noch zerfetzte, zerschnitt und Schmerzen bereitete. Ihre Schreie und ihr Blut waren schrecklich für ihn. Und je mehr er den Tempel, den er so lange angebetet hatte, zerstörte und schändete, desto weniger konnte er seinen Anblick ertragen.«
Hunt sah mich an, und hinter seinen Augen war eine merkwürdige leere. Sein Gesicht war ohne jede Emotion, als er mich fragte: »Können Sie sich das vorstellen, Dr. Scarpetta?«
»Ich höre Ihnen zu«, war alles, was ich sagte.
»Er ist in jedem von uns«, sagte er.
»Bereut er seine Tat, Al?«
»Er kennt so etwas nicht«, sagte Hunt. »Ich glaube zwar, dass er seine Tat nicht gut findet, aber er weiß ja gar nicht, was er wirklich getan hat. Er ist mitten in einem Strudel verwirrender Emotionen. Innerlich will er es nicht wahrhaben, dass sie tot ist. Er denkt an sie, durchlebt noch einmal alle seine Begegnungen mit ihr und bildet sich ein, dass seine Beziehung mit ihr die allertiefste war, bloß weil sie bei ihrem letzten Atemzug an ihn gedacht hatte, und das ist für ihn die äußerste Form der Nähe, die man zu einem anderen Menschen haben kann. Aber der rationale Teil in ihm ist frustriert und unzufrieden. Niemand kann einemanderen vollkommen gehören, diese Wahrheit beginnt ihm langsam zu dämmern.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte ich.
»Seine tat konnte gar nicht den angestrebten Zweck erfüllen«, antwortete Hunt. »Er ist sich nicht sicher, ob er ihr wirklich so nahe war. Genau so wie bei seiner Mutter. Da war wieder das alte Misstrauen. Und auf einmal sind da auch andere Leute, die jetzt ein viel intensiveres Verhältnis zu Beryl haben als er.«
»Wer zum Beispiel?«
»Die Polizei.« Er sah mich an. »Und Sie.«
»Weil wir den Mord an ihr aufklären wollen?«, fragte ich, während es mir eiskalt den Rücken hinunterlief.
»Ja.«
»Weil sie für uns jetzt wichtig ist, und weil unsere Beziehung zu ihr öffentlich ist, seine aber nicht?«
»Ja.«
»Wozu kann das führen?«, fragte ich.
»Dazu, dass Cary Harper tot ist, zum Beispiel.«
»Hat er Harper umgebracht?«
»Ja.«
»Warum?« Nervös zündete ich mir eine Zigarette an.
»Der Mord an Beryl geschah aus Liebe«, antwortete Hunt. »Der Mord an Harper geschah aus Hass. Er gibt sich jetzt nur noch seinem Hass hin, und damit ist
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