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Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman

Titel: Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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jeder, der mit Beryl zu tun hat, in Gefahr. Das wollte ich Lieutenant Marino sagen. Aber ich wusste, dass es umsonst war. Er würde doch bloß denken, dass bei mir eine Schraube locker ist.«
    »Wer ist es?«, fragte ich. »Wer hat Beryl getötet?«
    Al Hunt rutschte ganz ans Ende der Couch und fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. Als er wieder aufsah, hatten seine Wangen rote Flecken.
    »Jim Jim«, flüsterte er.
    »Jim Jim?«, fragte ich verwirrt.
    »Ich weiß nicht.« Seine Stimme überschlug sich. »Ich höre ständig diesen Namen in meinem Kopf.«
    Ich saß bewegungslos da.
    »Es ist so lange her, dass ich im Valhalla Hospital war«, sagte er.
    »In der geschlossenen Abteilung?«, platzte ich heraus. »War dieser Jim Jim zu Ihrer Zeit dort ein Patient?«
    »Ich weiß nicht genau.« In seinen Augen brauten sich die Emotionen wie ein Sturm zusammen. »Ich höre diesen Namen, und ich sehe die Klinik. Meine Gedanken verlieren sich in dunklen Erinnerungen, als würde ich in ein schwarzes Loch gesogen. Es ist so lange her. So vieles ist ausgelöscht. Jim Jim. Jim Jim. Wie das Schnauben einer Lokomotive. Dieses Geräusch hört einfach nicht auf. Ich habe schon Kopfschmerzen von diesem Geräusch.«
    »Wann war das alles?«, wollte ich wissen.
    »Vor zehn Jahren«, schrie er.
    Vor zehn Jahren hätte Hunt niemals an einer Magisterarbeit schreiben können, konstatierte ich für mich. Er war damals noch ein Teenager.
    »Al«, sagte ich, »Sie haben in dieser geschlossenen Abteilung damals doch nicht für Ihr Studium gearbeitet. Sie waren ein Patient, nicht wahr?«
    Er vergrub das Gesicht in seinen Händen und weinte. Als er sich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte, wollte er nichts mehr sagen. Gequält murmelte er, dass er eine Verabredung habe, für die er schon zu spät käme, und rannte aus dem Haus. Mein Herz klopfte wie verrückt und wollte sich nicht beruhigen. Ich machte mir eine Tasse Kaffee, lief in der Küche auf und ab und überlegte, was ich tun sollte. Das Klingeln des Telefons schreckte mich auf.
    »Kann ich bitte mit Kay Scarpetta sprechen?«
    »Am Apparat.«
    »Hier ist John von Amtrak. Ich habe die Auskunft, die Sie wollten, Ma’am. Also ... Sterling Harper hat eine Fahrkarte für den ›Virginian‹ – das ist ein Zug – für den 27. Oktober gekauft. Rückreise wäre am 31. gewesen. Meinen Unterlagen zufolge warsie in dem Zug, zumindest war jemand mit ihrer Fahrkarte drin. Wollen Sie die genauen Abfahrts- und Ankunftszeiten?«
    »Ja, bitte«, sagte ich und schrieb sie auf. »Von wo nach wo geht der Zug?«
    »Von Fredericksburg nach Baltimore«, sagte er.
    Ich versuchte Marino anzurufen. Er war unterwegs. Als er mich am Abend zurückrief, hatte er selbst Neuigkeiten.
    »Soll ich vorbeikommen?«, fragte ich wie betäubt, nachdem er sie mir erzählt hatte.
    »Ich sehe nicht viel Sinn darin«, kam Marinos Stimme aus der Leitung. »Es gibt keinen Zweifel an dem, was er getan hat. Er hat einen Abschiedsbrief an seine Unterhose geheftet. Darin steht, dass es ihm leidtut, dass er es nicht mehr ertragen kann. Mehr nicht. Es gibt nichts Verdächtiges dort. Wir sind eigentlich fertig. Und außerdem ist Doc Coleman hier«, fügte er hinzu und meinte einen meiner lokalen Leichenbeschauer.
    Nachdem Al Hunt mein Haus verlassen hatte, war er zu seinem eigenen gefahren, einem Ziegelgebäude im Kolonialstil am Ginter Park, wo er bei seinen Eltern wohnte. Er nahm einen Schreibblock und einen Bleistift aus dem Büro seines Vaters. Dann ging er in den Keller und zog seinen schmalen Ledergürtel aus. Seine Hosen legte er neben seine Schuhe auf den Boden. Als seine Mutter später nach unten kam, um Wäsche zu waschen, fand sie ihren einzigen Sohn, der sich an einer Wasserleitung im Waschraum erhängt hatte.

11
    Nach Mitternacht setzte überfrierender Regen ein, und am Morgen sah die Welt aus wie mit Glas überzogen. Ich blieb den Samstag über im Haus. Mein Gespräch mit Al Hunt lief wieder und wieder in meinem Kopf ab und durchschlug die Einsamkeit meiner Gedanken wie die Eiszapfen, die vor meinem Fenster urplötzlich zu Boden fielen. Ich fühlte mich schuldig. Wie jeder andere Mensch, der mit einem Selbstmord konfrontiert wird, erlag auch ich dem Trugschluss, dass ich etwas hätte tun können, um ihn zu verhindern.
    Wie betäubt setzte ich Al Hunt mit auf die Liste. Vier Menschen waren tot. Zwei davon waren auf ruchlose, himmelschreiende Weise ermordet worden, und obwohl das bei den anderen beiden nicht der

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