Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
glasigen Augen. »Er glaubt, dass er sich zu ihr hingezogen fühlt, aber es ist mehr als nur das. Er will sich unbedingt diese Fähigkeiten aneignen, die er nicht hat. Er will diese Frau besitzen. In einem gewissen Sinn will er sie sein .«
»Damit sagen Sie praktisch, dass er wusste, dass Beryl Schriftstellerin war?«, fragte ich.
»Man kann kaum etwas vor ihm verbergen. Irgendwie hat er sicher herausgefunden, dass sie Schriftstellerin war. Er wusste wahrscheinlich so viel von ihr, dass es sie, hätte sie es gewusst, fürchterlich verletzt und verängstigt hätte.«
»Erzählen Sie mir von der Mordnacht«, sagte ich. »Was geschah in der Nacht, in der sie starb, Al?«
»Ich weiß nur das, was ich darüber in den Zeitungen gelesen habe.«
»Und was haben Sie sich daraus zusammengereimt?«, fragte ich.
»Sie war zu Hause«, sagte er und starrte ins leere. »Und es war schon ziemlich spät, als er vor ihrer Tür stand. Höchstwahrscheinlich hat sie ihn hereingelassen. Irgendwann vor Mitternacht ging er wieder fort und löste dabei die Alarmanlage aus. Beryl wurde erstochen. Und es war vielleicht ein Sexualverbrechen. Mehr habe ich nicht gelesen.«
»Haben Sie eine eigene Theorie von dem, was passiert ist?«, fragte ich geradeheraus. »Irgendwelche Spekulationen, die über das, was Sie gelesen haben, hinausgehen?«
Er beugte sich in seinem Sessel vor, und sein Verhalten änderte sich abermals dramatisch. Seine Augen glühten vor Emotion. Seine Unterlippe begann zu zittern.
»Ich sehe Bilder vor mir«, sagte er.
»Was für Bilder?«
»Von Dingen, die ich nicht der Polizei sagen würde.« »Ich bin nicht die Polizei«, sagte ich.
»Die Polizei würde das nicht verstehen«, entgegnete er. »Das sind Sachen, die ich sehe und fühle, ohne dass ich einen Grund dafür habe, warum ich sie weiß. Es ist wie bei Frankie.« Er blinzelte, weil seine Augen feucht wurden. »Und wie bei anderen. Ich konnte sehen und verstehen, was geschehen war, obwohl man mir nicht immer alle Einzelheiten erzählt hatte. Aber Einzelheiten braucht man oft gar nicht. Außerdem werden sie einem häufig nicht geliefert. Sie wissen, warum, nicht wahr?«
»Nicht ganz ...«
»Weil die Frankies in dieser Welt sie oft selbst nicht einmal wissen! Es ist wie ein schlimmer Unfall, an den man sich nicht mehr erinnert. Das Bewusstsein kehrt zurück, wie man aus einem bösen Traum aufwacht, und man steht plötzlich vor dem, was man angerichtet hat. Vor der Mutter, die kein Gesicht mehr hat. Oder einer blutüberströmten, toten Beryl. Die Frankies wachen erst auf , wenn sie auf der Flucht sind oder wenn ein Polizist, von dem sie nicht wissen, dass sie ihn gerufen haben, an ihrer Haustür klingelt.«
»Wollen Sie mir damit sagen, dass Beryls Mörder sich nicht mehr genau daran erinnert, was er getan hat?«, fragte ich vorsichtig.
Er nickte.
»Sind Sie ganz sicher?«
»Der beste Psychiater auf der Welt könnte ihn eine Million Jahre befragen, und er könnte ihm immer noch keine genaue Schilderung des Vorfalls geben«, sagte Hunt. »Die Wahrheit kann niemand genau wissen. Sie muss rekonstruiert und oft genug einfach geraten werden.«
»Das ist genau das, was Sie eben getan haben. Sie haben rekonstruiert und geraten«, sagte ich.
Er befeuchtete seine Unterlippe und atmete unregelmäßig. »Soll ich Ihnen sagen, was ich sehe?«
»Ja«, antwortete ich.
»Viel Zeit ist vergangen seit seinem ersten Kontakt mit ihr«, begann Hunt. »Aber sie hat ihn nie als Person wahrgenommen, obwohl sie ihn vielleicht schon einmal gesehen hat, ohne ihn zu erkennen. Seine Frustration, seine Besessenheit treiben ihn an ihre Tür. Irgendetwas muss dieses überwältigende Bedürfnis, sie persönlich zu konfrontieren, ausgelöst haben.«
»Was?«, fragte ich. »Was hat es ausgelöst?«
»Das weiß ich nicht.«
»Was könnte er gefühlt haben, als er beschloss, sie aufzusuchen?«, hakte ich nach.
Hunt schloss die Augen und sagte: »Ärger darüber, dass ernicht in der Lage war, die Dinge so zu steuern, wie er sie gern haben wollte.«
»Ärgerte er sich, weil er keine Beziehung mit Beryl haben konnte?«, fragte ich.
Mit immer noch geschlossenen Augen schüttelte Hunt langsam den Kopf und sagte: »Nein. Vielleicht war das der oberflächliche Grund dafür. Aber die Wurzeln seines Ärgers lagen tiefer. Er ärgerte sich, weil von Anfang an nichts so lief, wie er es wollte.«
»Schon als er noch ein Kind war?«, fragte ich.
»Ja.«
»Wurde er misshandelt?«
»Ja,
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