Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
Wir wissen überhaupt nichts, haben nicht einmal eine Ahnung, welche Motive den Morden zugrunde lagen. Der Mörder könnte genauso gut jemand wie Jeb Price sein. Oder jemand, der Jim Jim heißt.«
»Jim Jim, du meine Güte«, wiederholte er bissig.
»Ich finde, wir sollten im Moment noch nichts ausschließen, Marino.«
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Wenn Sie über einen Jim Jim stolpern, der einen Abschluss am Valhalla Hospital gemacht hat und zufälligerweise in seiner Freizeit Terrorist ist, der orangefarbene Acrylfasern mit sich herumschleppt, dann rufen Sie mich doch einfach an.« Er rückte sich in seinem Sitz zurecht, schloss die Augen und murmelte: »Ich brauche unbedingt Urlaub.«
»Ich auch«, sagte ich. »Ich brauche Urlaub von Ihnen.«
Gestern Abend hatte Wesley angerufen, um über Hunt zu sprechen, und als ich erwähnte, wo ich hinfuhr und warum, hatte er darauf bestanden, dass es unklug wäre, wenn ich allein führe. Er dachte nur noch an Terroristen, Uzi-Maschinenpistolen und Glaser-Munition. Er wollte, dass Marino mitfuhr, und es hätte mir nichts ausgemacht, wenn die Sache nicht zu einer Qual ausgeartet wäre. In dem Zug um sechs Uhr fünfzig am Morgen waren keine Plätze mehr frei gewesen, und so hatte Marino Fahrkarten für den um vier Uhr früh besorgt. Ich wagte mich um halb drei Uhr morgens in mein Büro und holte die Styroporschachtel, die ich jetzt in meiner Einkaufstasche dabeihatte. Ich fühlte mich körperlich am Ende, und mein Schlafdefizit hatte gigantische Ausmaße angenommen. Leute wie Jeb Price brauchten mich gar nicht mehr fertigzumachen. Mein Schutzengel Marino würde ihnen diese Arbeit abnehmen.
Die anderen Passagiere hatten die Leselämpchen über ihren Köpfen ausgeschaltet und dösten. Kurz darauf kreischte unser Zug langsam mitten durch Ashland, und ich fragte mich, wie die Leute in den hübschen, weißen Holzhäusern an den Gleisen das wohl Tag für Tag aushielten. Die Fenster waren dunkel, und auf den Veranden salutierten kahle Fahnenstangen stocksteif zu uns herüber. Wir fuhren an einer verschlafenen Ladenzeile vorbei – einem Friseur, einem Schreibwarengeschäft, einer Bank – und wurden schneller, als wir in einer weiten Kurve um das Gelände des Randolph-Macon College mit seinen georgianischen Gebäudenvorbeifuhren. Der von weißem Raureif überzogene Sportplatz war zu dieser frühen Stunde noch leer, bis auf eine Reihe von Football-Trainingsschlitten in verschiedenen Farben. Hinter der Stadt lagen Wälder mit Böschungen aus rotem Lehm. Ich lehnte mich in meinen Sitz zurück und ließ mich vom Rhythmus des Zuges einlullen. Je weiter wir uns von Richmond entfernten, desto mehr entspannte ich mich, und ohne es eigentlich zu wollen, schlief ich ein.
Ich träumte nicht, sondern war eine Stunde lang ohne Bewusstsein, und als ich meine Augen wieder öffnete, dämmerte es blau hinter der Scheibe, und wir überfuhren gerade den Quantico Creek. Das Wasser sah aus wie poliertes Zinn. Das Licht glitzerte auf Wellen und Strudeln, und einige Boote schwammen bereits auf dem Wasser. Ich dachte an Mark. Ich dachte an unsere Nacht in New York und an längst vergangene Zeiten. Seit seiner letzten geheimnisvollen Botschaft auf meinem Anrufbeantworter hatte ich nichts mehr von ihm gehört. Ich fragte mich, was er wohl gerade machte, und hatte doch Angst davor, es tatsächlich zu erfahren.
Marino setzte sich auf und blinzelte angeschlagen zu mir herüber. Es war Zeit für Frühstück und Zigaretten, wobei die Reihenfolge nicht unbedingt verbindlich war.
Der Speisewagen war voller verschlafener Leute, die, ohne aufzufallen, in jedem Busbahnhof in Amerika hätten sitzen können. Ein junger Mann döste im Rhythmus irgendeines Musikstücks, das aus dem Kopfhörer über seinen Ohren quäkte, vor sich hin. Eine müde Frau hielt ein zappelndes Baby im Arm. Ein älteres Paar spielte Karten. Wir fanden einen freien Tisch in der Ecke, und während Marino losging, um nach etwas Essbarem Ausschau zu halten, steckte ich mir eine Zigarette an. Das eingepackte Schinken-und-Ei-Sandwich, das Marino mir brachte, war wenigstens warm, aber das war auch das einzig Positive, was ich daran finden konnte. Der Kaffee schmeckte nicht schlecht. Marino riss das Cellophan mit den Zähnen auf und schaute auf die Einkaufstasche, die ich neben mich auf den Sitz gestellt hatte.
Darin befanden sich in einer Styroporschachtel zwischen Trockeneis Proben von Sterling Harpers Leber und dem Inhalt ihres Magens
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