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Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman

Titel: Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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Fall war, hingen trotzdem diese Todesfälle irgendwie miteinander zusammen. Vielleicht lief ein grellroter Faden durch alle vier. Am Samstag und Sonntag arbeitete ich an meinem Schreibtisch zu Hause, mein Büro in der Stadt hätte mich nur daran erinnert, dass ich nicht im Dienst war und deshalb auch momentan nicht benötigt wurde. Die Arbeit ging ohne mich weiter. Menschen, die meine Hilfe gesucht hatten, waren gestorben. Kollegen, die ich respektierte, wie der Generalstaatsanwalt, wollten Erklärungen, und ich konnte ihnen keine geben.
    Ich konnte mich nur auf eine einzige, schwache Art und Weise wehren. Ich setzte mich vor meinen Computer, gab Einzelheiten der Fälle ein und grübelte über Nachschlagewerken. Und ich führte eine Menge Telefongespräche.
    Ich sah Marino erst wieder, als ich mich mit ihm am Montagmorgen auf dem Amtrak-Bahnhof in der Staples Mill Road traf. Wir gingen zwischen zwei wartenden Zügen den Bahnsteig entlang. Die Motoren der Lokomotiven strahlten Wärme in die dunkle Winterluft und verströmten den Geruch von Öl. Wir fandenSitzplätze im hinteren Teil des Zuges und nahmen die Unterhaltung, die wir im Bahnhof begonnen hatten, wieder auf.
    »Dr. Masterson war nicht gerade gesprächig«, sagte ich über Hunts Psychiater und stellte die Einkaufstasche, die ich bei mir hatte, vorsichtig auf den Boden. »Aber ich habe den Verdacht, dass er sich an Hunt sehr viel besser erinnert, als er zugibt.« Warum nur musste ich immer die Sitze erwischen, bei denen die Fußstützen defekt waren?
    Mit einem herzhaften Gähnen zog Marino seine Fußstütze herunter, die natürlich einwandfrei funktionierte. Er bot mir nicht an, die Plätze zu tauschen. Wenn er es getan hätte, hätte ich glatt angenommen.
    Er antwortete: »Hunt war also an die achtzehn, neunzehn Jahre alt, als er in der Klapsmühle war.«
    »Ja. Er wurde wegen starker Depressionen behandelt«, erwiderte ich.
    »Das habe ich mir fast gedacht.«
    »Und was meinen Sie damit?«, fragte ich.
    »Diese Typen haben immer Depressionen.«
    »Was für Typen, Marino?«
    »Na, sagen wir mal, dass mir bei meinem Gespräch mit ihm mehr als einmal das Wort Tunte durch den Kopf ging«, murmelte er. Das Wort Tunte ging Marino ständig mehr als einmal im Kopf herum, wenn er mit jemandem sprach, der anders war als er.
    Der Zug fuhr geräuschlos an, wie ein Schiff, das langsam vom Anlegesteg gleitet.
    »Ich wünschte, Sie hätten diese Unterhaltung auf Tonband aufgenommen«, fuhr Marino fort und gähnte wieder.
    »Die mit Dr. Masterson?«
    »Nein, die mit Hunt. Als er bei Ihnen hereinschneite«, sagte er. »Das ist nun wohl vorbei und nicht so wichtig«, antwortete ich betreten.
    »Ich weiß nicht. Mir scheint es so, als ob der Irre eine ganze Menge gewusst hat. Ich wünschte bei Gott, er wäre uns noch ein wenig länger erhalten geblieben, wenn ich so sagen darf.«
    Was Hunt mir in meinem Wohnzimmer erzählt hatte, wäre vielleicht von Bedeutung gewesen, wenn er am Leben geblieben wäre und nicht so viele wasserdichte Alibis gehabt hätte. Die Polizei hatte das Haus seiner Eltern auf den Kopf gestellt und nichts gefunden, was Hunt mit den Morden an Beryl Madison und Cary Harper in Verbindung gebracht hätte. Genauer gesagt, Hunt hatte in der Nacht, in der Beryl starb, mit seinen Eltern im Country Club zu Abend gegessen, und als Cary Harper ermordet wurde, hatte er mit seinen Eltern die Oper besucht. Die Angaben waren alle überprüft worden. Hunts Eltern hatten die Wahrheit gesagt.
    Ruckelnd, schaukelnd und rumpelnd bewegte sich der Zug nach Norden. Die Pfiffe der Lokomotive hallten traurig durch die Winterluft.
    »Die ganze Sache mit Beryl brachte das Fass zum Überlaufen«, meinte Marino. »Wollen Sie wissen, was ich denke? Er hat sich so lange mit ihrem Mörder identifiziert, bis er ausrastete und sich selber aus dem Verkehr zog, sich verkrümelte, bevor er völlig durchdrehte.«
    »Ich glaube eher, dass Beryl seine alte Wunde wieder aufplatzen ließ«, antwortete ich. »Sie erinnerte ihn daran, dass er unfähig war, Beziehungen einzugehen.«
    »Sieht aus, als wären er und der Mörder aus demselben Holz geschnitzt. Beide unfähig, mit Frauen umzugehen. Beide sind sie Verlierer.«
    »Hunt war nicht gewalttätig.«
    »Vielleicht hatte er aber einen Hang zur Gewalttätigkeit und konnte nicht mehr damit leben«, sagte Marino.
    »Wir wissen nicht, wer Beryl und Harper getötet hat«, erinnerte ich ihn. »Wir wissen nicht, ob der Mörder ähnlich wie Hunt ist.

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