Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
Krankheit, die sie offensichtlich höchst geheimgehalten hatte, zur Routine gehört. Als man mir mitteilte, welche Medikamente ihr verschrieben worden waren, fügten sich die Puzzleteilchen in meinen Gedanken auf einmal zusammen. Die Labors in meiner Dienststelle hatten kein Polarimeter oder irgendeine andere Möglichkeit, um Levorphanol feststellen zu können. Dr. Ismail von Johns Hopkins versprach, mir dabei zu helfen, wenn ich ihm die nötigen Proben bringen würde.
Es war jetzt noch nicht ganz sechs Uhr, und wir kamen an die Außenbezirke von Washington. Wälder und Sümpfe flogen vorbei, bis wir auf einmal in der Stadt waren und das Jefferson-Denkmal weiß durch eine Lücke in den Bäumen aufblitzen sahen. Wir fuhren so nahe an hohen Bürogebäuden vorbei, dass ich durch die sauber geputzten Fensterscheiben Zimmerpflanzen und Lampenschirme sehen konnte. Dann tauchte der Zug in den Untergrund und raste blind unter der Innenstadt hindurch.
Wir trafen Dr. Ismail im pharmakologischen Labor der Krebsklinik. Ich öffnete die Einkaufstasche und stellte die kleine Styroporschachtel auf seinen Tisch.
»Sind das die Proben, über die wir gesprochen haben?«, fragte er und lächelte.
»Ja«, antwortete ich. »Sie müssten noch gefroren sein. Wir sind vom Bahnhof direkt hierhergekommen.«
»Wenn die Konzentration stimmt, dann können Sie in etwa einem Tag mit einem Bescheid rechnen«, sagte er.
»Was genau werden Sie mit dem Zeug machen?«, erkundigte sich Marino und schaute sich im Labor um, das aussah wie alle anderen Labors, die ich gesehen hatte.
»Es ist eigentlich ganz einfach«, erwiderte Dr. Ismail geduldig. »Zuerst werde ich einen Extrakt aus der Probe des Mageninhalts herstellen. Das ist der schwierigste und langwierigste Teil des Tests. Wenn das geschafft ist, lege ich den Extrakt ins Polarimeter, das etwa so aussieht wie ein Teleskop, nur dass seine Linsen verdrehbar sind. Ich schaue ins Okular und drehe die Linsen nach links und nach rechts. Wenn die Substanz Dextromethorphan ist, dann lenkt sie das Licht nach rechts ab, das bedeutet, dass das Bild in meinem Okular heller wird, wenn ich die Linsen nach rechts drehe. Für Levorphanol gilt das Gleiche in umgekehrter Richtung.«
Er erläuterte, dass Levorphanol ein sehr wirkungsvolles Schmerzmittel sei, das fast nur Leuten verschrieben wurde, die unheilbar an Krebs erkrankt seien. Weil das Medikament hier entwickelt wurde, führte er über alle Patienten des Hopkins-Krankenhauses, die es einnahmen, genau Buch. Sinn und Zweck dieser Aufzeichnungen war der, die therapeutischen Möglichkeiten des Medikaments zu dokumentieren. Als Überraschung präsentierte er uns die Aufzeichnungen von Miss Harpers Behandlungen.
»Sie kam alle zwei Monate zu ihren Blut- und Knochenmarktests und erhielt bei jedem Besuch einen Vorrat von etwa zweihundertfünfzig Zwei-Milligramm-Tabletten«, sagte Dr. Ismail und strich die Seite in einem dicken Ordner glatt. »Schauen wir mal ... Ihr letzter Besuch war am 28. Oktober. Sie hätte also noch mindestens fünfundsiebzig, wenn nicht gar hundert Tabletten haben müssen.«
»Es ist so schade.« Er sah uns mit dunklen, traurigen Augen an.»Sie hat sich tapfer geschlagen. Eine wundervolle Frau. Ich freute mich immer, wenn ich sie und ihre Tochter sah.«
Nach einem Moment verblüffter Stille fragte ich: »Ihre Tochter?«
»So dachte ich wenigstens. Eine junge Frau. Blond ...«
Marino schaltete sich ein: »War sie mit Miss Harper auch das letzte Mal hier, am letzten Wochenende im Oktober?« Dr. Ismail runzelte die Stirn und sagte: »Nein. Ich kann mich nicht erinnern, sie damals gesehen zu haben. Miss Harper war allein.«
»Seit wie vielen Jahren kam Miss Harper hierher?«, wollte ich wissen.
»Da muss ich in ihrer Akte nachsehen. Aber ich weiß, dass es einige Jahre sein müssen. Mindestens zwei.«
»War ihre Tochter, diese junge blonde Frau, denn immer dabei?«, fragte ich.
»Am Anfang nicht so oft«, antwortete er. »Aber während des letzten Jahres, und möglicherweise im Jahr davor auch schon, hat sie Miss Harper bei jedem Besuch begleitet, außer bei diesem letzten im Oktober. Ich war beeindruckt. Miss Harper war schwer krank, und da ist es wichtig, dass man Unterstützung von der Familie hat.«
»Wo wohnte Miss Harper, wenn sie hier war?« Marinos Kiefermuskeln zogen sich zusammen.
»Die meisten Patienten wohnen in den Hotels in der Nähe, aber Miss Harper liebte den Hafen«, erzählte Dr. Ismail.
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