Flucht im Mondlicht
Anruf schlecht schlief, aber wenigstens hustete sie weniger. Die Ärzte hatten bei ihr eine schwere Lungenentzündung diagnostiziert, aber die gute Nachricht war, dass sie mit einer Reihe starker Medikamente geheilt werden konnte. Leider machten die Tabletten sie benommen und müde, sodass sie die meiste Zeit vor sich hindöste. Fadi nahm einen Löffel von dem pikanten selbstgemachten Joghurt und klatschte ihn auf seinen Teller mit gedünstetem Blumenkohl. Er hasste Blumenkohl. Aber er wusste, dass es diese Woche oft welchen geben würde. Sein Vater hatte im Supermarkt drei Köpfe gekauft, weil sie im Angebot waren.
»Na, Fadi, war heute in der Schule etwas Besonderes los?«
Fadi schüttelte den Kopf. Ein Bild erschien vor seinem geistigen Auge, wie ein verschwommenes Standfoto aus einem Film. Er sah Noor vor sich, wie sie in dem engen Gässchen hinter dem McDonald’s mit dem tätowierten Jungen lachte, als würde sie ihn gut kennen.
»Komm schon«, redete sein Vater ihm lächelnd zu. »Etwas muss doch los gewesen sein.«
Fadi versuchte, das Bild aus seinem Kopf zu verdrängen und etwas Interessantes zu erzählen. »Na ja, es gibt da einen Fotoklub, der nächste Woche anfängt«, nuschelte er hastig.
»Einen Fotoklub! Das klingt ja toll«, sagte Habib augenzwinkernd.
Das ist ein gutes Thema , dachte Fadi erleichtert.
»Junge, wir hatten in Kabul immer viel Spaß mit der alten Minolta, was?«, fügte Habib hinzu.
Fadi nickte. »Es kostet fünfzig Dollar, wenn man mitmachen will.«
Habibs Lächeln erstarb.
»Fünfzig Dollar? Das ist zu viel«, warf Safuna mit finsterer Miene ein.
»Na ja, vielleicht …«, begann Habib, aber Fadi unterbrach ihn.
»Nein, nein, schon gut«, sagte er hastig und wünschte, er hätte das Thema nicht angesprochen. »So groß ist mein Interesse wirklich nicht. Es ist nur … es gibt eben einen Fotoklub, das ist alles.«
Safuna blickte mit verkniffenem Mund zu Noor hinüber. »Warum hast du Geld für ein weiteres Paar Ohrringe vergeudet?«
Fadi schielte zu seiner Schwester hinüber. Sie trug glänzende neue Ohrringe.
»Die waren gar nicht teuer«, sagte Noor leise und zupfte ihr Haar über die Ohren, um sie zu verstecken. Ihre Fingernägel waren schwarz lackiert.
»Safuna, Jan «, sagte Habib. »Noor arbeitet hart. Was ist schon so ein bisschen Schmuck für unsere hübsche Tochter?«
Safunas Lippen zitterten, doch sie sagte nichts mehr.
Fadi ließ den Blick über seine Familie schweifen und Schuldgefühle zerfraßen ihn wie Säure. Alle gaben sich die Schuld an Mariams Verschwinden. Sie würden ihn hassen, wenn sie die Wahrheit erfahren würden.
Später an jenem Abend, als die anderen sich in ihre Zimmer zurückgezogen hatten, hockte Fadi im fast dunklen Wohnzimmer und starrte auf das leuchtende Viereck des Fernsehers. Sein Vater hatte das kleine Gerät bei einem Garagenverkauf erstanden. Die Fernbedienung fehlte, sodass Fadi sich vorbeugen musste, um auf ein anderes Programm umzuschalten. Keine der Shows sah interessant aus. Er wollte den Fernseher gerade ausmachen, als eine Geschichte in den Zehn-Uhr-Nachrichten seine Aufmerksamkeit erregte. Ein kleines Mädchen, das von New York nach Chicago fliegen sollte, war ins falsche Flugzeug geraten und in Miami gelandet. Als die glückliche Wiedervereinigung des Kindes mit seinen Eltern in Chicago gezeigt wurde, wünschte Fadi, Mariam befände sich gerade in einem Flugzeug, das sie heim zu ihrer Familie brachte.
Ein blinder Passagier
» Du warst gestern gar nicht bei der Vorbesprechung des Fotoklubs«, flüsterte eine vertraute Stimme neben Fadi.
Verdutzt blickte er auf und sah Anh neben seinem Stuhl stehen. »Äh, nein«, sagte er und minimierte das Fenster auf dem Computer-Bildschirm. »Ich konnte nicht hingehen.« Er saß in der Bibliothek und surfte im Internet. Er versuchte weitere Nachrichten über das Mädchen zu finden, das aus Versehen ins falsche Flugzeug geraten war.
»Du hättest kommen sollen«, sagte sie. Ihre mandelförmigen Augen blickten ihn ernst an. »Miss Bethune hat mich nach dir gefragt. Sie sagte, dass sie dich im Park mit einem Fotoapparat gesehen hat und dass du sehr gern fotografierst.«
»Ja, schon«, sagte Fadi und suchte nach einer guten Ausrede. »Aber ich habe zu viele Hausaufgaben zu erledigen … und ich muss nach der Schule meinem Vater helfen«, fügte er matt hinzu.
»Das ist wirklich schade«, sagte Anh.
»Aber danke, dass du es mir erzählt hast«, sagte Fadi und wollte sich
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