Flucht in die Hoffnung
arbeitslos war. Fathi war mit Radhia,
einer Frau aus Gafsa, verheiratet, was untypisch war, denn die meisten Männer
aus dem Bergdorf in der Nähe von Mathmata, aus dem er und Mohamed stammen,
heirateten Frauen aus ihrer Region.
Auf einmal lernte ich ein ganz anderes Tunesien kennen. So tief war
ich noch nie eingetaucht in dieses Land – und war es nicht das, was ich mir gewünscht
hatte: mit der Kultur zu verschmelzen?
Wir blieben einige Wochen bei Mohameds Cousin Fathi und seiner Frau
Radhia, die uns sehr freundlich aufnahmen. In ihrem offenen Haus lernte ich
viele interessante Menschen kennen. Langsam verlor ich meine Angst, schrak
nicht mehr ständig zusammen. Niemand verurteilte mich, ich musste mich für
nichts rechtfertigen. Ich wurde akzeptiert, so wie ich war. Keiner beschimpfte
mich. Niemand bedrängte mich. Das brachte mich am Anfang so durcheinander, dass
ich immer wieder in Tränen ausbrach. Solch ein Mitgefühl und solch eine Wärme
hatte ich lange nicht erlebt.
Mohamed fuhr jeden Morgen zur Arbeit, abends kehrte er zurück. Wenn
es sich einrichten ließ, besuchte er mich auch tagsüber. Seine Freundschaft war
mir kostbar.
Ich nutzte meine Zeit, um Tunesisch zu lernen, Emira spielte mit
anderen Kindern, lachte viel und blühte auf in dieser freundlichen Atmosphäre.
Abends saßen wir lange draußen in der lauen Nachtluft. Eng an mich gekuschelt
erzählte Emira mir, was sie tagsüber erlebt hatte, und schlief manchmal mitten
in einem Satz ein. Nur selten waren Mohamed und ich allein, und das bedauerte
ich, wie ich mir schließlich eingestand. Ich mochte die Gespräche mit ihm,
wollte mehr über ihn wissen, nachdem er uns in all der Zeit so selbstverständlich
zur Seite stand.
Auch in Radhias Haus war es nicht üblich, dass Männer und Frauen
miteinander verkehrten. Doch manchmal, wenn die anderen schon schliefen, saßen
wir auf der Terrasse und unterhielten uns flüsternd.
»Hast du eine Freundin?«, fragte ich
Mohamed.
Verlegen schüttelte er den Kopf.
»In deinem Alter!«, staunte ich. Ich hielt
ihn für über dreißig.
»Wieso in meinem Alter, ich bin zweiundzwanzig. Das ist doch noch
gar nicht so alt, oder?«
Fassungslos starrte ich ihn an. Zweiundzwanzig! Vierzehn Jahre
jünger als ich.
»Und du?«, fragte er irritiert.
»Sechsunddreißig.«
Jetzt starrte er mich an. Dann bekamen wir einen Lachanfall und
glaubten uns nicht – bis wir uns gegenseitig unsere Pässe unter die Nase
hielten.
Am nächsten Morgen mussten wir den anderen erzählen, was da mitten
in der Nacht so lustig gewesen war: Wir hatten sie alle aufgeweckt!
Einmal machten Mohamed und ich einen Ausflug ins Hinterland von
Djerba, so ähnlich wie damals ans Meer. Ich verspürte große Sehnsucht nach
körperlicher Nähe, nach Zuwendung, wollte einfach nur festgehalten werden.
Mohamed erfüllte meinen Wunsch.
Wieder zurück in Houmt Souk, fühlte ich mich stark genug, um in
Erfahrung zu bringen, was ich tun konnte, um Farid aus meinem Leben zu verbannen.
Ich protokollierte die Ereignisse, Radhia gab sie in ein Übersetzerbüro. Das
ins Tunesische übersetzte Protokoll brachte ich zum Gericht, und es wurde ein
Termin angesetzt.
Was würde geschehen? Würden wir geschieden werden, und wenn ja, wer bekäme
das Sorgerecht? Ich konnte die Lage nicht einschätzen, doch ich reimte mir
zusammen, dass ich nach tunesischem Recht schlechte Karten hatte. Es war einige
Jahre her, als ich am Flughafen einmal daran gehindert worden war, mit Emira
das Land zu verlassen – obwohl unsere Pässe in Ordnung waren. Damals hatte
Farid nicht einmal etwas gegen unsere Ausreise gehabt.
»Sie brauchen eine beglaubigte Genehmigung des Vaters, dass sein
Kind unser Land verlässt.«
»Aber mein Mann weiß Bescheid!«
»Ohne seine Einwilligung kann ich Sie nicht passieren lassen.«
Ein hoher Beamter telefonierte schließlich mit dem Herrn Doktor, der
mir gnädigerweise die Erlaubnis erteilte, mit seiner Tochter nach Deutschland
auszureisen. Allerdings verpassten Emira und ich unseren Flug, weil das
Prozedere so lang dauerte, und mussten bis zum nächsten Tag warten.
Offenbar hätte ich damals hellhörig werden sollen. Aber da herrschte
noch nicht dieser Hass zwischen uns, da war noch Hoffnung.
Jetzt aber erinnerte ich mich nur zu gut daran, dass Farid mir ins
Gesicht geschleudert hatte, wie wenig ihm an mir läge. Es war Emira, die er
hatte zurückhaben wollen. Ich war nur das lästige Anhängsel gewesen, das sie
ins Land
Weitere Kostenlose Bücher