Flucht in die Hoffnung
Mahlzeiten
mit uns teilten.
Zum Frühstück servierte Bechir Brot und Datteln. Emira half ihm beim
Abwasch und trällerte ein Liedchen. Immer wieder forschte ich in ihren Zügen –
doch ich entdeckte keinen Kummer. Wie alle Kinder lebte sie voll und ganz in
der Gegenwart. Die Fahrt in die Berge und dann die Nacht in der einfachen
Höhlenwohnung – all das war für sie ein großes Abenteuer. Bechir lud uns ein,
bei ihm zu bleiben; er beurteilte unsere Situation als reine Willkür der
tunesischen Behörden. Ihm sei alles recht, wenn er sich gegen die Staatsmacht
wenden könne, die die Menschen so sehr unterdrückte.
Mohamed hingegen schlug vor, wir sollten seine Familie besuchen, die
in der Nähe lebte.
»Gern!«, rief ich. »Dann kann ich endlich duschen.« So romantisch das Lager bei Bechir auch war: Fließendes
Wasser vermisste ich sehr.
Mohamed wurde blass. Auf der Fahrt zu seinen Eltern schwieg er noch
länger als sonst. Ich dachte, er würde wie ich die atemberaubende Landschaft
genießen. Da sagte er mit leiser Stimme: »Tina, entschuldige. Bei meinen Eltern
gibt es keine Dusche.«
»Na, dann eben ein bisschen Wasser, das haben sie, oder?«
»Ja schon, Tina. Aber bei meinen Eltern … also … es ist dort … wir
sind sehr arm.«
Er schämte sich, mir nicht das bieten zu können, von dem er glaubte,
dass ich es erwartete. Ich hingegen ärgerte mich, weil ich so unsensibel
gewesen war. Ich legte meine Hand auf sein Bein. »Ich komme mit allem klar,
Mohamed. Danke, dass du mein Freund bist.«
Sicher hätte ich mir eine Dusche gewünscht. Doch während der Fahrt
durch diese Wüstenei begriff ich, dass Wasser hier ein kostbares Gut war. Seit
es immer trockener wurde, mussten viele der Berber kilometerweit zu einem
Brunnen laufen, der nicht versiegt war. Das Leben war arm und entbehrungsreich,
doch es war weit davon entfernt, primitiv zu sein. Die Menschen, die sich
entschlossen hatten, hierzubleiben, erfüllten mich mit Respekt. Wie
erfindungsreich wir sein können, um auch unter größten Herausforderungen zu
überleben! Wir passen uns an Kälte und Hitze an und finden unsere Nischen, um
zu überleben und ein bisschen Glück zu finden.
Es war Nacht, als wir ankamen und Mohameds Familie aufweckten – sein
Vater Hedi schlief im Freien, die Mutter Zina und Mohameds jüngste Schwester
Nawres, ein Jahr älter als Emira, im Haus. Staunend und herzlich begrüßten sie
uns, schemenhafte Gestalten vor dem Sternenhimmel. Nach einigen erklärenden
Worten bekamen wir Schlafplätze zugewiesen, Mohamed draußen, Emira und ich im
Haus. Ich war so erschöpft, dass ich sofort einschlief.
Am nächsten Morgen konnte ich Mohameds Familie endlich auch sehen.
Mohameds Mutter Zina, eine große, magere Frau, weckte mich, als das Frühstück
fertig war: Brot mit Olivenöl. Verlockend duftete der türkische Kaffee, den sie
in einem kleinen Kännchen im offenen Feuer zubereitet hatte.
Nach dem Frühstück deutete Mohamed in wenigen Sätzen unsere
Geschichte an. Sein Vater nickte bedächtig – und da wusste ich, woher Mohameds
ruhiges Wesen stammte. Hedi machte uns keine Vorhaltungen. Allerdings erzählte
ihm Mohamed nur einen Teil der Geschichte. Den anderen Teil konnten sich die
Eltern bald zusammenreimen, denn in der zweiten Nacht fühlte ich mich
schrecklich einsam in dem Haus. Auf leisen Sohlen schlich ich nach draußen und
kroch unter Mohameds Decke.
»Tina, bitte, das geht nicht. Wenn meine Eltern aufwachen!«
»Ich fühle mich so allein.«
»Bitte, Tina!«
»Nein, ich will jetzt bei dir sein.«
»Das ist nicht richtig.«
»Nur ein bisschen!«
»Nein«, sagte Mohameds Stimme, und sein Körper sagte ja.
Am nächsten Morgen wachte ich auf von dem traurigen Blick, den
der Vater über uns gleiten ließ. Ich gähnte verlegen, da entfernte er sich.
Zwei Monate später sollte Mohamed in Tunis einen Verwandten aus seinem Dorf
treffen, der ihm eine Botschaft seines Vaters überbringen würde: »Dein Vater
hat mir gesagt, ich soll dir ausrichten, dass so etwas nie mehr geschehen darf.«
Folgsam nickte Mohamed und bat seinen Verwandten, seinem Vater
auszurichten, dass er sich für sein Fehlverhalten entschuldige und so etwas nie
mehr geschehen würde: »Ok goulla li baba samehni rani
methachem meneh we ma adech nea3wedha marra okhra.«
Das Leben bei Mohameds Familie war ein Kulturschock für mich. Es
gab nicht nur kein fließendes Wasser, es gab auch keine Toilette. Nicht mal irgendwo
ein Loch, gar nichts, man verrichtete
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