Flucht in die rote Welt
bleibt dein Sinn für das Abenteuer?«
Sie lachten, und dann verschwanden Charlas Füße vom Boden. »Vielleicht komme ich mit zunehmendem Alter zu der Ansicht, daß nur das Beste gut genug ist«, flüsterte Joseph.
Kirby drückte mit schwitzenden Fingern auf das kleine Rädchen und ließ die Welt stillstehen. Vorsichtig kroch er unter dem Bett hervor und ging zur Tür. Ein Blick auf das Paar zeigte ihm, daß er die Tür unbesorgt einen Spalt öffnen konnte.
Er schloß sie hinter sich und verbrachte noch ein paar Sekunden in der echten Zeit, um die Klinken der übrigen Kabinentüren herunterzudrücken. Drei der Räume waren leer, der vierte war verschlossen.
Er überlegte. Dann versetzte er sich wieder in die rote Welt und kehrte zurück in Charlas Kabine. Es war ihm peinlich, die beiden zu stören, auch wenn sie nichts von der Störung merkten. Vorsichtig tastete er Josephs Anzug nach Schlüsseln ab.
Die Schlüssel, insgesamt sechs, hingen an einem goldenen Ring. Er strich den Anzug glatt, ließ die Schlüssel in der Luft schweben und beförderte sie durch kleine Stöße hinaus. Wieder konnte er die Tür öffnen und schließen, ohne daß die beiden es bemerkten.
Es mußte ein kleiner Schlüssel sein – und der zweite paßte. Er öffnete die Tür. Betsy starrte ihn verwirrt an. Sie hatte offenbar durch das dick verglaste Bullauge das Meer beobachtet. Ihr blondes Haar war wirr, ihr Gesicht blaß und ohne Make-up. Sie trug einen orange Coverall mit kurzen Ärmeln, einem durchgehenden Reißverschluß und einer silbernen Schnalle. Die Farbe stand ihr nicht.
»Was in aller Welt ...«
Er legte den Finger an die Lippen, schloß die Tür und verriegelte sie von innen. Als er sie wieder ansah, versuchte sie zu lächeln. Aber die Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie kam zu ihm, und er drückte sie fest an sich. Sie zitterte, aber sie weinte lautlos.
Schließlich machte sie sich los und ging mit unsicheren Schritten zu der Koje hinüber. Sie setzte sich und stützte den Kopf in die Hände. Dann lächelte sie schüchtern. »Tut mir leid. Ich wäre beinahe ohnmächtig geworden. Das ist mir noch nie passiert.« Ihr Gesicht verzerrte sich. »Es war einfach zuviel. Sie hat mir so – weh getan.«
Er setzte sich neben sie. »Es war meine Schuld.«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich mußte unbedingt die Heldin spielen. Ich dachte, ich könnte ihr gegenübertreten. Ich – ich glaubte nicht, daß sie mir etwas antun würde. Und als ich merkte, daß ich mich getäuscht hatte, schwor ich mir, tapfer zu sein. Johanna am Scheiterhaufen. Und nach ein paar Minuten winselte ich um Gnade und verriet alles. Es tut mir so leid, Kirby, und ich schäme mich so. Ich verriet ihnen, wo sie dich und Wilma finden könnten. Bitte, verzeih mir.«
»Du hättest alles sagen sollen, bevor sie dir wehtaten.«
»Das nächstemal bin ich klüger. Es ist eine so einfache Methode. Einer dieser elektrischen Apparate, die man zu Abmagerungskuren benutzt. Sie setzt die Vibrationskissen an den Stellen an, wo es am meisten schmerzt, und geht dann mit der Stromstärke immer höher, bis man das Gefühl hat, daß einen die eigenen Muskel zerreißen. Und hinterher sind nicht die geringsten Spuren zu sehen. Sie ist ein Satan, Kirby. Wie bist du hergekommen? Und wo ist Charla?«
»Leise, Betsy. Sie und Joseph befinden sich am anderen Ende des Korridors. Aber keine Angst. Es wird noch alles gut.«
»Wilma hatte keine Ahnung. Mein Gott, Kirby, das ist ja ein schrecklich prüdes Mädchen. Wo befindet sie sich übrigens?«
»An einem sicheren Ort – wenigstens für den Augenblick. Eine Zeitlang wurde sie von zwei Matrosen der Jacht bewacht. René und Raoul.«
»An René kann ich mich erinnern. Raoul ist wohl ein Neuer. René ist Charla treu ergeben. Mir hat es nie gepaßt, wie er mich angesehen hat.«
»Mich hatten sie auch gefangen – in dem Haus des Professors, zusammen mit Wilma –, aber uns gelang die Flucht.«
Sie sah ihn verwirrt an. »Du bist den beiden entkommen – und hierher aufs Schiff gelangt? Kirby, ich glaube, ich habe dich unterschätzt.«
»Joseph und Charla wissen noch nicht, daß ich geflohen bin. Sie wollten mich und Wilma heute nacht in Packkisten an Bord bringen.«
»Bist du sicher, daß du ihnen nicht die Hälfte der Arbeit erspart hast?«
»Ich glaube, daß alles gut wird. Siehst du, ich weiß jetzt, was sie von mir wollen.«
»Tatsächlich?«
»Ich weiß noch nicht, wie ich die vielen legalen Probleme lösen kann,
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