Flucht ins Glück: Das Geheimnis von Baxter Hall: Von den Eltern verstoßen (Frauenschicksale im 19. Jahrhundert) (German Edition)
zurück. Auch wenn Dr. Morstan das Gegenteil behauptete, fühlte sie, wie sie sich dem Ende ihres Lebens näherte. Die Stunden, in denen sie die Kraft aufbrachte, im Rollstuhl zu sitzen, wurden seltener. Nur Ellens Besuche schafften es für kurze Zeit, sie aus ihrer Lethargie zu reißen. Sie machte sich große Sorgen um das junge Mädchen. Ihr Sohn und ihre Schwiegertochter erwiesen sich als absolut uneinsichtig, wenn sie versuchte, mit ihnen über Ellen zu sprechen. Höflich und gleichzeitig bestimmt verbat sich ihr Sohn ihre Einmischung in seine Angelegenheiten.
Ellen setzte sich zu ihrer Großmutter aufs Bett. Sie erzählte ihr, was auf dem Ball vorgefallen war. "Ist es nicht richtig gewesen, Lord Gladstone die Wahrheit zu sagen, Großmama?" fragte sie.
"Es war richtig", bestätigte die alte Dame. "Man sollte sich selbst treu bleiben. Du hast bedeutend mehr Mut, als ich in meiner Jugend aufgebracht habe." Sie betrachtete Ellen nachdenklich durch ihr Lorgnon. "Abgesehen von deinem Kummer wegen Joshua Bradley, gibt es da noch etwas, was dich bedrückt? Bist du krank? Hast du irgendwelche Beschwerden, über die du nicht mit deiner Mutter sprechen möchtest?"
Ellen nickte. "Mir ist frühmorgens und am Nachmittag oft übel und selbst, wenn ich nicht so eng geschnürt bin, wird mir schwindlig. Außerdem..." Sie beugte sich ihrer Großmutter zu und flüsterte ihr ins Ohr, obwohl sie mit ihr völlig allein im Schlafzimmer befand. "Manchmal denke ich, daß ich krank bin. Irgend etwas stimmt nicht mit mir."
Lady Georgina griff nach der Hand ihrer Enkelin. "Bitte sag mir die Wahrheit, Ellen, ist zwischen dir und Joshua Bradley mehr vorgefallen als ein paar harmlose Küsse?"
Das junge Mädchen errötete. "Ja, an dem Nachmittag, an dem wir von James Green beobachtet wurden", gestand es. "Ich weiß, es ist Unrecht gewesen und wir hätten es nicht tun dürfen... Es ist einfach passiert." Ellen starrte auf die weiße Bettdecke. "Bin ich deswegen krank?"
Die alte Dame seufzte auf. "Nein, du bist nicht krank, Ellen, du erwartest ein Kind."
Ellen schlug entsetzt die Hand vor den Mund. "Joshua und ich sind nicht verheiratet. Wie können wir da ein Kind bekommen?"
"Dazu muß man nicht verheiratet sein, Ellen", meinte Lady Georgina. "Du darfst auf Kate und Samuel Bradley keine Rücksicht mehr nehmen. Du mußt Rowland Manor verlassen, bevor deine Eltern von deiner Schwangerschaft erfahren. Sollte bekanntwerden, daß du ein illegitimes Kind erwartest, werden sie dich in eine Anstalt stecken."
"Wo soll ich denn hin?" fragte Ellen verzweifelt.
"Zu Mary McKinnon nach Schottland", erklärte ihre Großmutter. "Ich werde dir einen Brief an Mary diktieren und morgen Doktor Morstan mitgeben." Sie lächelte ihrer Enkelin zu. "Es wird alles gut, Ellen." Erneut ergriff sie die Hände des jungen Mädchens. "Eines muß dir allerdings klar sein: Du wirst nicht mehr ein Leben im Luxus führen können. Vieles, was dir heute noch selbstverständlich ist, wird für immer der Vergangenheit angehören."
"Das macht mir nichts aus, wenn ich mit Joshua zusammen sein darf", antwortete Ellen. "Was ist mir dir? Werde ich dich jemals wiedersehen, Großmama? Wirst du mich in Schottland besuchen?"
"Mach dir um mich keine Sorgen, Ellen", sagte Lady Georgina, ohne auf ihre Frage einzugehen. "Und du mußt dir auch keine Sorgen um Joshuas Eltern machen. Ich verfüge über einiges Geld und werde ihnen helfen können." Sie wies ins Wohnzimmer. "Und nun hol Papier, Feder und Tinte. Und vergiß mein Siegel nicht."
Ellen stand wie betäubt auf. Noch konnte sie nicht fassen, daß sie ein Kind erwartete. Es erschien ihr völlig unwirklich. Erst, während sie für ihre Großmutter den Brief an Mary McKinnon schrieb, wurde ihr nach und nach bewußt, daß es nicht mehr lange dauern konnte, bis Joshua und sie wieder miteinander vereint sein würden. Sie mußte Rowland Manor verlassen, bevor die Zofe ihrer Mutter, die ihr oft beim Ankleiden half, die Zeichen der Schwangerschaft bemerkte.
* * *
In den nächsten vierzehn Tage versuchte Lady Ellen, sich möglichst unauffällig zu verhalten und nicht erneut, den Ärger ihrer Eltern herauszufordern. Seit sie an Mary McKinnon geschrieben hatten, konnte sie kaum noch an etwas anderes denken als daran, Joshua schon bald wiederzusehen. Sie hatten dem Brief an Mary auch ein paar Zeilen an Joshua beigelegt. Er mußte schließlich wissen, daß sie nach Schottland kommen würde.
Der Gedanke an Kate und Samuel Bradley bedrückte
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