Flucht nach Colorado
Gefühl, ihrem Untergang entgegenzugehen.
Oben angekommen, war Emily nur froh, dass sie nicht unter Höhenangst litt. Einzig ein Geländer aus Kirschholz verhinderte einen mindestens sechs Meter tiefen Sturz ins Foyer.
Brian führte sie auf die gegenüberliegende Seite, wo an einer getäfelten Wand mehrere Gemälde hingen.
Er begann, sorgfältig jedes einzelne Bild zu erklären und sie auf besondere Pinselstriche und Perspektiven hinzuweisen. Sein fortwährender Monolog hatte eine beruhigende Wirkung auf sie. „Sie kennen sich sehr gut mit Ihren Kunstwerken aus", bemerkte sie.
„Ich habe selbst einmal daran gedacht, Maler zu werden", entgegnete er. „Ich war nie so geschäftstüchtig wie meine Schwester. Vielleicht werde ich, wenn diese Geschichte hier endlich vorbei ist, mal wieder versuchen, zu malen."
„Wenn diese Geschichte vorbei ist?" fragte sie. „Sie meinen, sobald der Mörder verurteilt ist."
„Ja, der Mörder." Seine blauen Augen, die einen so auffälligen Kontrast zu seinem schwarzen Haar bildeten, starrten sie an wie eine Ratte, die in einem Mülleimer herumwühlt.
Sie konnte nicht fassen, wie emotionslos er über den Mord an seiner Schwester sprach. Emily hatte oft genug mit Hinterbliebenen zu tun gehabt, und normalerweise war die Reaktion eine andere. Zwei Monate nach einem solchen Verlust empfanden die meisten Menschen unverminderte Trauer...
„Vermissen Sie Lynette?" fragte sie.
„Gute Frage." Er schob sie ein paar Schritte weiter auf eine Flügeltür zu. „Wir haben uns nie sonderlich nahe gestanden. Lynette hat immer alle anderen übertroffen, als Schönheitskönigin genauso wie als Klassenbeste. Vielleicht habe ich ihr den Erfolg missgönnt."
So sehr, dass er sie getötet hat? Auf jeden Fall konnte Brian dank der Erbschaft nun ein sehr glamouröses Leben führen.
„Ich weiß, was Sie jetzt denken", sagte er. „Sie fragen sich, ob ich sie ermordet habe."
Ihr Magen krampfte sich zusammen. Der Augenblick, auf den sie so lange gewartet hatte, war gekommen. Ein stichhaltiger Beweis. Ein Geständnis. Und doch hatte sie Angst vor der Antwort. Wenn er ihr die Wahrheit beichtete, was würde er dann als Nächstes tun?
„Nun, Emily, ich möchte Sie nicht länger auf die Folter spannen. Habe ich Lynette umgebracht? Die Antwort ist nein."
Sollte sie ihm glauben? „Wir müssen nicht darüber sprechen, Brian."
„Das möchte ich aber gerne. Ich muss Ihnen ein Geständnis machen. Wegen einiger komplizierter juristischer Gründe darf ich über Lynettes Vermögen erst verfügen, wenn der Prozess gegen Jordan vorbei ist. Es gibt Unstimmigkeiten wegen seiner zehn Prozent, weswegen ich erst einmal an nichts rankomme. Um ganz ehrlich zu sein, mir ist es egal, ob er schuldig ist oder nicht. Mir geht es nur darum, dass das Thema endlich abgeschlossen wird."
„Er ist unschuldig", sagte sie ruhig.
„Und Sie mögen ihn sehr. Da hat sich wohl etwas zwischen ihnen beiden entwickelt."
„Nein."
„Bemühen Sie sich erst gar nicht, es abzustreiten. Jeder hat das schon vermutet, selbst die dämlichen Polizisten. Und das ist auch der Grund, warum Sie hier sind, Emily. Ich gehe davon aus, dass Jordan kommt, um Sie edelmütig zu retten."
Eine dunkle Vorahnung packte sie. „Wieso sollte er mich retten müssen?"
„Weil man Sie verhaften wird." Zum ersten Mal sah sie, dass sich so etwas wie ein Gefühl auf seinem Gesicht abzeichnete. Er war erheitert, ja, er lachte sie geradezu aus. „Sie haben einem Sträfling auf der Flucht geholfen, nicht wahr?"
Die Vorstellung, ins Gefängnis zu müssen, ängstigte sie. Aber solange sie wusste, dass sie das Richtige getan hatte, konnte sie alles ertragen. War nicht auch ihr Vater unschuldig in einem Camp in Vietnam festgehalten worden?
Sie schluckte schwer, versuchte einen Rest an Fassung zu bewahren. „Mal angenommen, Sie hätten Recht, wie würden Sie denn Jordan ergreifen wollen?"
„Ich bin gut vorbereitet. Unter den Gästen sind mehrere ausgebildete Sicherheitsleute. Ach ja, und außerdem habe ich Scharfschützen auf dem Dach postiert."
„Scharfschützen? Ich dachte, Sie wollten Jordan vor Gericht bringen?"
„Wenn er tot ist, wird das Problem mit der Erbschaft ebenso schnell erledigt werden."
Endlich verstand Emily. „Sie haben die Belohnung ausgesetzt."
„So ist es. Zehntausend Dollar sind ein geringer Preis, den ich gerne zahle." Er stieß die Flügeltür auf. „Unsere Führung wäre ohne diese Räumlichkeiten hier nicht komplett. Treten
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