Flucht nach Lytaxin: Ein LIADEN-Roman (German Edition)
entfernen lassen können, jederzeit während ihrer Reise hierher. Er hatte sich entschlossen, sie zu behalten, eine permanente und manchmal schmerzende Erinnerung an die Folgen von Dummheit.
»Nicht mehr als das, worauf Ihr spekuliert habt, junger Herr.« Er hörte Onkel Er Thoms trockene Bemerkung in seinem Kopf und lächelte zustimmend.
Es wäre eine ganz andere Sache, dachte er sich, als seine Finger die Frequenzen und Rhythmen einstellten, wäre der Schnitt nicht richtig verheilt – oder wenn seine Lebenspartnerin Einwände gehabt hätte. Aber die Wunde war sauber, wie er tel'Vosti gesagt hatte, und Miri hatte sich nicht geäußert.
»Sinnlos«, hörte er Onkel Er Thoms aus der Erinnerung, »sich mit dem Wohlbefinden jener zu befassen, mit denen man nicht verwandt ist. Korval verfährt gemäß seinen eigenen Bedürfnissen. Das Melant'i anderer ist deren Problem.«
»Ja, Onkel«, murmelte er, berührte das Keyboard, spielte sanft die kühle und logische Linie der musikalischen Unterschrift seines Onkels, die der junge Val Con vor vielen Jahren komponiert hatte. Sein Ohr identifizierte eine Möglichkeit in der alten Melodie und er spielte halb unbewusst, ließ seine Finger tun, was sie mochten.
Das Melant'i anderer ist deren Problem. Eine alte Lektion, eine der ersten. Man kümmerte sich um jene, die einem nahe waren, den Clan, die Bediensteten, die Verwandten … Val Cons Finger ruhten auf den Tasten.
Shan würde bald hier sein.
Shan war sein Cha'leket, der Bruder seines Herzens. Shan würde die Narbe kümmern. Er würde auch anderes beanstanden, um ehrlich zu sein. Dinge, die jemanden bekümmern würden, der geholfen hatte, ein grünäugiges Pflegekind aufzuziehen. Das würde sicher jemanden bekümmern, der ein Heiler war und fähig zu erkennen, was auf der Seele des Pflegekindes lag.
Die Abteilung für Innere Angelegenheiten … die AIA hatte großen Schaden angerichtet, Erinnerungen zerstört, Heimat gestohlen, Liebe, Musik, Mutter. »… unsere Mutter«, sagte Shan vor vielen Jahren. »Deine Mutter ist gegangen, aber wir können meine teilen, okay?«
Unsere Mutter … Anne Davis: braunes Haar, fröhliche, dunkle Augen, kluge Hände, mit dem Geruch nach gebunden Büchern und Blumen. Mit weiten Hüften und vollen Brüsten, wie viele terranische Frauen; voll Fröhlichkeit und Leidenschaft und mit mehr als genug Liebe für alle Kinder im Haus – ihre eigenen drei und das des Cha'leket ihres Lebenspartners. Sie hatte ihm die Chora zu spielen beigebracht, ihn das Schreiben gelehrt – Terranisch und Trade –, Tränen abgewischt, Kindersorgen getröstet, Recht gesprochen und Küsse verteilt, und sich mit ihm gefreut, als er in die Scout-Akademie aufgenommen worden war.
Und die Abteilung für Innere Angelegenheiten hatte sie gestohlen.
»Meine Verwandte …« Er erinnerte sich an seine eigene Stimme, wie er zu Miri sprach – einer Miri, beinahe für ihn verloren, misstrauisch und skeptisch, wozu sie jeden Grund gehabt hatte. »Meine Verwandte …«, ohne Gefühl, ohne jede Erinnerung, wie sie jetzt hochkam, von großen, warmen Händen, die seine hielten, seine kleinen Finger auf dem Keyboard zurechtrückten.
Seine rechte Hand drückte die Tonfolge, seine linke justierte den Rhythmus. Beide Hände ruhten dann in der Mitte der Tasten und kamen dann mit großer Sicherheit hinab, schwebten hinein in die Toccata .
Sie erlaubte viel, wie große Musik es immer tat, endlose Variationen und Lektionen von seinen Fingern gehörten zu den größten Freuden. Aber seine Mutter hatte sie um ihrer selbst willen geliebt, und so spielte er nun auch, wie damals für Shan, während Erinnerungen, unterdrückt und verdreht und fremd gemacht – widerwärtig! – durch seine Feinde, sich lösten und flossen und ihn wahrhaft trafen, ehe er die Augen schloss und sich ganz der Musik hingab und der Erinnerung und nicht einmal merkte, wie er weinte.
Die Musik erreichte ihr natürliches Ende, wie es Musik nun einmal tat, und seine Finger lagen wieder ruhig auf den Tasten. Nach einem Moment merkte er, dass er nicht mehr allein in Erobs Musikzimmer war, und öffnete seine Augen.
»Hi!«, sagte sie. Sie hockte auf der Lehne eines der Hörsessel. Ihr Haar war heute geflochten. Er konnte den Schimmer ihres Haares auf dem Spiegel hinter ihr ausmachen. Sie trug ein großes, gelbes Hemd und weiche Hosen in der Farbe von Shans bevorzugtem Wein – die richtige Bekleidung für eine lange Sitzung mit dem Clanhistoriker. Sie beugte sich
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