Flucht über den Himalaya
drei Uhr morgens.
Ein halbes Jahr später verkrieche ich mich in Andreas starken Armen, denn für einen Landeanflug im Himalaya braucht man entweder ein ausgeprägtes Phlegma oder den unerschütterlichen Glauben an eine glückliche Reinkarnation. Mit rasanter Geschwindigkeit fällt die kleine Maschine aus den dichten Wolken herab, die ohne Vorwarnung aufreißen und den Blick auf gigantische Felswände freilegen. Rechts, links, hinten, vorne – überall nur steinerne Monster, gegen die das Flugzeug mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit prallen wird. Ich gelobe gerade, ein besserer Mensch zu werden, da verläßt die Maschine ihren Crashkurs, zieht eine halsbrecherische Kurve und landet schließlich mit einem eleganten Bogen auf dem dreitausend Meter hoch gelegenen Flugplatz von Leh, der Hauptstadt Ladakhs. Im Nordosten Tür an Tür mit Tibet, im Nordwesten bedrohlich nah an Pakistan und im Westen an ein ungeliebtes Kaschmir grenzend, liegt dieses ›Land der hohen Pässe‹, das als Wiege des Buddhismus gilt. Der Ladakhi hält nicht viel davon, daß er politisch gesehen zu Indien gehört, und hat sich – hinter unwegbaren Bergketten – sein eigenes Universum geschaffen: Ein ›Klein-Tibet‹, wie es die tibetischen Herrscher einst abfällig nannten, doch heutzutage mit seinen unzähligen buddhistischen Klöstern tibetischer als Tibet selbst.
Als Andrea und ich unseren ersten Schritt auf ladakhischen Boden setzen, fühle ich mich, als wäre ich endlich zu Hause angekommen: Nur Berge um uns herum – mit dem Bonus, daß es nicht die österreichischen Alpen sind. Hier gibt es weder klaustrophobische Täler noch klamme Finger und Schnürlregen, noch bärtige Männer mit Karohemden und zweifelhaftem Humor und Hüttenwirte, die ihre lernschwachen Kinder verprügeln. Hier ist die Luft kristallklar und dünn, die Farben sind heiter, und die Landschaft ist von märchenhafter Weite.
Mit Jürgens Hilfe habe ich mir beim WDR ein kleines Aufnahmegerät ausgeliehen. Denn seit Peter Lustig in der Kindersendung ›Löwenzahn‹ an einem rauschenden Bach versuchte, das Gluckern des Wassers einzufangen, möchte ich Geräusche-Sammlerin werden. Schon nach den ersten Tagen unserer Akklimatisierung kann sich die Beute auf dem kleinen Sony hören lassen: Da wiegen sich rotgewandete Mönche mit sonoren Gesängen in Trance, und die mit Türkisen geschmückten Frauen singen Erntedanklieder. Die Kinder, die am Indus den Schmutz aus ihrer nassen Wäsche klopfen, muntern einander mit Sprechgesängen auf. Ein Pferdeführer bändigt sein scheuendes Tier mit einer uralten Weise. Die Moslems aus Kaschmir seufzen traurige Schnulzen von unerfüllter Liebe, und ihr Muezzin ist ständig heiser – kein Wunder, wenn man fünfmal täglich versucht, gegen eine buddhistische Übermacht anzusingen.
Meine sonst so wirren Gedanken ordnen sich nachts zu poetischen Reimen, die ich schlaftrunken in mein Mikro hauche, und Andrea ist allmählich genervt. Ich spüre, daß es besser für unsere Freundschaft wäre, das Aufnahmegerät während unserer mehrtägigen Bergtour zurückzulassen. Also verkrieche ich mich mit meinem kleinen Sony, auf dem wichtigtuerisch ein blauer WDR-Aufkleber prangt, unter der zentnerschweren Decke unseres ladakhischen Gästehauses. Bevor ich einschlafe, sollte ich mir zumindest noch das erste Interview meines Lebens anhören, das ich mit dem ersten Tibeter meines Lebens gemacht habe: im Kinderdorf von Choglamsar.
Zwanzig Minuten Busfahrt östlich von Leh liegt Choglamsar. Von der indischen Regierung auf das unfruchtbarste Stückchen Land verbannt, haben sich hier etwa viertausend Exiltibeter ein neues Leben aufgebaut, mit stetem Blick auf die Heimat, die hinter den Bergketten auf ihre Rückkehr wartet. Im tibetischen Kinderdorf von Choglamsar – einem von insgesamt elf Kinderdörfern im indischen Exil – wächst die Generation tibetischer Jugendlicher heran, deren Eltern und Großeltern bereits über den Himalaya geflohen sind. Und jene Kleinen, denen erst jüngst die Flucht über die Schneepässe gelang.
Nachdem uns der Direktor des Kinderdorfes dankend eine Spendenquittung für die Einkünfte unseres Benefizabends ausgestellt hat, vertraut er uns einem sympathischen jungen Lehrer namens Tsering an. Der führt uns über den sandigen Boden des riesigen Schulhofs, der von den ebenerdigen Schulgebäuden eingesäumt wird. Sie sind im traditionellen tibetischen Baustil errichtet worden. Die langgestreckten Fensterfronten
Weitere Kostenlose Bücher