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Flucht über den Himalaya

Flucht über den Himalaya

Titel: Flucht über den Himalaya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Blumencron
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speichern auch im Winter die Wärme der Sonne, und die Fensterrahmen aus dunklem Holz verleihen den weiß gestrichenen Fassaden eine schlichte Gemütlichkeit. In der Mitte des Schulhofes ruht – eingerahmt von kargen Blumenbeeten – eine riesige Landkarte aus buntem Stein: ›Tibet, our country‹. In der trockenen, wüstenartigen Hitze flimmert das steinerne Abbild der besetzten Heimat wie eine Fata Morgana. Aus den umliegenden Klassenräumen dringen verhalten die Geräusche des Schulalltags. Eine ruhige Konzentriertheit liegt über dem ganzen Gelände.
    »Wir bereiten uns darauf vor, China eine gute Antwort zu geben. Nicht mit Waffen, sondern mit der Kraft unseres Geistes«, lacht Tsering und fordert uns auf, einen Blick in die verschiedenen Klassenräume zu werfen. In der Montessori- Kindergruppe sitzen die Jüngsten – nicht älter als drei, vier Jahre – in kleinen Gruppen auf dem hölzernen Bretterboden und bemühen sich, bunte Plättchen zu geometrischen Formen zu legen. Die Kinderzeichnungen an den Wänden unterscheiden sich kaum von denen in deutschen Kindergärten, nur daß die Berge mehr Schnee tragen und die Yaks längere Hörner als unsere Rinder haben.
    Die Sechsjährigen der ersten Grundschulklasse wirken wesentlich jünger und zerbrechlicher als europäische Erstkläßler. Doch das Singspiel, das ihnen das englische Alphabet beibringen soll, singen sie mit großer Begeisterung:
    A, B, C, D, E, F, G
My mother always made the tea
H, I, J, K, L, M, N
My father is a Khampa man!
    O, P, Q, R, S, T
    When Tibet will be one day free
U, V, W, X, Y, Z
    I will go home to our little flat.
    Im Chemiesaal dürfen die Oberstufenschüler heute ohne ihren Lehrer Tsering an einem Versuchsaufbau experimentieren; und in der Bibliothek, die mit farbenprächtigen Holzschnitzereien ausgestattet ist, schmökern die Abiturienten in moderner westlicher Literatur und in antiken tibetischen Schriftrollen. Keine Frage: Das hier ist eine Eliteschule. Hier werden die Kinder ausgebildet, die Tibets Hoffnung und Zukunft sind.
    »Wenn Tibet einmal frei sein wird, werden wir viele gut ausgebildete Leute brauchen, die unsere zerstörte Heimat wieder aufbauen«, sagt Tsering, »und all diese Kinder, die ohne ihre Eltern ins Exil kamen, werden mit einem großen Schatz an Wissen nach Hause zurückkehren und ihrem Land mit den erworbenen Fähigkeiten dienen.«
    Wenn Tibet einmal frei sein wird. Ein schöner Gedanke, wenn auch etwas utopisch. Die Kinder scheint er jedenfalls zu beflügeln, denn sie pauken mit auffallendem Eifer.
    »Schicken die Eltern ihre Kinder wegen der guten Ausbildung nach Indien?« fragt Andrea bei einer sehr süßen Tasse Tee in der Schulkantine.
    »Es gibt so viele verschiedene Gründe für tibetische Mütter, ihre Kinder einem Flüchtlingsguide anzuvertrauen!« holt Tsering aus, und ich drücke schnell den Aufnahmeknopf meines Sonys: »Oft sind es wirtschaftliche. Vor allem in den entlegeneren Gegenden Tibets herrscht extreme Armut. Und der Gipfel ist, daß diese armen Leute absurd hohe Steuern an die Chinesen zahlen müssen! Es ist so lächerlich, was für Arten von Steuern es mittlerweile in Tibet gibt: Fellsteuern für das Vieh, Wollsteuern, Weidetaxen für das Gras, das die Tiere fressen, Wassersteuern, Landsteuern, Menschensteuern – pro Kopf in der Familie! Man nennt das ›Mi-tey‹, ›mi‹ heißt Mensch, ›tey‹ heißt Steuer. Dann ist es nicht erlaubt, mehr als zwei Kinder zu haben. Wenn eine tibetische Mutter mehr Kinder bekommt, muß sie hohe Strafen zahlen. Das geht von tausend bis fünftausend Yuan.«
    »Wieviel sind tausend Yuan?« fragt Andrea. »In Dollar?«
    »Ungefähr sechzig Dollar müßten das sein.«
    »In Deutschland bekommt man Geld für jedes Kind, das man in die Welt setzt!«
    »Die Chinesen nennen das Geburtenkontrolle. Darunter fallen übrigens auch die Zwangssterilisierungen und Zwangsabtreibungen bis in den achten Monat! Niemand versteht, warum das in Tibet so praktiziert wird. Bei der Weite und Größe des Landes haben wir nie Probleme mit Überbevölkerung gehabt! Die vielen Mönche und Nonnen sind außerdem die natürlichste Geburtenkontrolle, die bekommen nie Kinder. Familienpolitik ist einfach überhaupt nicht notwendig in Tibet! Aber seit China auf der Bildfläche erschienen ist, wollen sie die tibetische Bevölkerung kontrollieren. Und dazu kommt die chinesische Ansiedelungspolitik: Immer mehr Chinesen kommen in unser Land, und die Tibeter werden immer weniger, weil

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