Flucht über den Himalaya
immer mehr ins Exil auswandern. Bald sind wir in unserer eigenen Heimat nur noch eine Minderheit.«
»Aber dann ist es doch ungünstig für Tibet, daß die Kinder ins Exil auswandern?«
»Was würdet ihr machen, wenn ihr euer Kind nicht mehr ernähren könntet? In vielen Familien herrscht Hunger! Außerdem ist das Schulgeld für tibetische Kinder viel höher als für chinesische. Die Folge ist, daß viele tibetische Eltern ihre Kinder nicht mehr zur Schule schicken können.«
»Ich habe gehört, daß in den Schulen ab dem zweiten Jahrgang ohnehin nur auf Chinesisch unterrichtet wird?«
»Ja, das ist richtig! Die meisten Kinder können dann dem Unterricht nicht mehr folgen und werden schnell zum Gespött der chinesischen Mitschüler. So entsteht bereits in der Schule eine Zweiklassen-Gesellschaft. Und da steckt tatsächlich System dahinter: Denn wer nichts lernt, bekommt später einmal keine Arbeit oder nur die miesen Jobs. So werden die Tibeter immer mehr an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die Gewalt –«
Klack. Das Band ist aus. Ich lege das nächste ein und höre mich sagen: »O.k., jetzt kannst du weiterreden.« Und dann wieder Tserings Stimme: »Wißt ihr, mit Gefängnissen, Arbeitslagern, Folter, Druck und roher Gewalt ist es den Chinesen nie gelungen, unsere Religion und Kultur zu zerstören. Druck erzeugt immer Gegendruck. Also mußten sich die Chinesen etwas Subtileres einfallen lassen. Etwas, womit unsere tibetische Gemeinschaft von innen heraus geschwächt und allmählich aufgeweicht wird. Und das scheint ihnen mit dem neuen Steuer- und Schulsystem zu gelingen. Denn wer um sein nacktes Überleben kämpfen muß, hat nicht mehr viel Zeit zur Dharma-Pflege.«
»Dharma-Pflege?«
»Das Dharma ist die Lehre vom Buddha. Das Rezitieren von Gebeten und Mantras, das Lesen buddhistischer Schriften und religiöse Übungen waren immer ein wesentlicher Bestandteil unseres Tagesablaufs. Doch ein Kind ohne Zukunft wird später nicht fähig sein, seine Religion und die Kultur unseres Landes weiterzutragen. Deshalb sage ich immer, die Wogen der Zerstörung sind vielleicht kleiner geworden in Tibet. Aber es ist immer noch eine Tragödie. Eine stille Tragödie, die in der Weltöffentlichkeit keine große Beachtung findet.«
Das Band beginnt zu leiern. Im Dunkeln kann ich nicht genau herausfinden, warum. Wahrscheinlich geht langsam die Batterie aus. Andrea schläft schon, und es wäre nicht gerade rücksichtsvoll, nach neuen Batterien zu kramen.
Ich schließe die Augen und denke an Tsering. Ich beneide diesen Mann um seine Aufgabe. Er lebt im Exil, und doch hat er seinen Platz im Leben gefunden. Das Einkommen eines Lehrers in einem tibetischen Kinderdorf ist gering, doch seine Berufung ist groß. Neben dem Eingang zur Schulkantine hängt zur rechten Seite eine Tafel für die Lehrer, zur linken Seite eine Tafel für die Schüler. Jeden Morgen werden zwei neue Sprüche an die Tafeln geschrieben. Der eine soll die Kinder, der andere die Erwachsenen durch den neuen Tag begleiten: »Ein Lehrer sollte zu seinen Schülern nicht nur verbal von Liebe und Güte sprechen, sondern ihnen auch mit Liebe und Güte begegnen, so daß sein Verhalten einen tiefen Eindruck in den Seelen dieser Kinder hinterläßt.«
»Ein Zitat vom Dalai Lama«, erklärte uns Tsering, »er ist unsere Inspiration, sein Vorbild hält im Exil alles zusammen. Wir versuchen den Kindern nicht nur eine moderne Ausbildung zu vermitteln, wir wollen keine Egoisten großziehen, die nur hinter dem Geld her sind. Wir wollen diesen Kindern helfen, als Menschen mit einem fühlenden Herzen heranzuwachsen. Menschen, die stolz von sich sagen können: ›Ich bin ein Tibeter!‹ – mit all den Werten unserer Kultur.«
Mit lautem Geschepper unterbrach die Pausenglocke unser Gespräch. Hunderte von Kindern stürmten aus den Schulgebäuden, verteilten sich plappernd und lachend über den riesigen Hof. Die Mädchen tragen dunkelgrüne Chubas, die Jungs graue Wollpullover über ihren grauen Hosen. Jedes tibetische Kinderdorf hat seine eigene Schuluniform. Auch Tsering geht Grau in Grau, wie seine kleinen Schüler. »Chola Tsering«, rufen ihn die Jüngsten und holen sich verstohlen kleine Streicheleinheiten bei ihm ab, um anschließend schnell wieder in dem grün-grauen Gewusel unterzutauchen. Chola nennen die tibetischen Kinder ihren älteren Bruder. In einem tibetischen Kinderdorf ist man nicht nur Lehrer, sondern auch Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Onkel für diese
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