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Flucht über den Himalaya

Flucht über den Himalaya

Titel: Flucht über den Himalaya Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maria Blumencron
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fühlte.
    Die Nacht, in der der Vater seinen Söhnen das Dreigestirn am Himmel zeigte, war die erste, in der Tamding draußen in den Bergen übernachten durfte. Das war an seinem sechsten Geburtstag, und der Vater nahm den Jüngsten zu sich unter den weiten Fellmantel.
    Die drei Brüder am Himmel sind seitdem Tamdings liebstes Sternzeichen. In den Wintermonaten stehen sie frühmorgens noch am Himmel und warten darauf, daß Tamding mit seiner Schultasche aus der Haustür schlüpft, den Bach entlang bis zur Brücke läuft, auf den kleinen Felsen klettert und zusieht, wie sie sich langsam drehend hinter den Horizont schieben, einer nach dem anderen.
    So beginnt jeder Morgen für Tamding mit einem kleinen Abschied.
    Doch bevor die leise Melancholie dieser Stunde nach Tamdings Herz greifen kann, kommt meist auch schon Jamjang vom anderen Ufer über die Brücke gekeucht, um Luft und dumme Ausreden für seine Verspätung ringend.
    Jamjang ist Tamdings bester Freund, und er ist auch der Beste in der Klasse, weil Tamding ihn immer abschreiben läßt. Tamding ist Zweitbester, weil er das schlechtere Schreibzeug hat. Die billigen Kulis aus China machen so häßliche Kleckse und verschmieren die Schriftzeichen auf dem schlechten Schulpapier. Jamjang schreibt seine Arbeiten mit einem guten Füller aus dem Westen. Er hat keine Geschwister, und seine Großeltern brauchen keine teuren Medikamente, weil sie schon lange gestorben sind. Doch Tamding ist seinem Freund nicht neidisch. Es ist besser, einen billigen Kuli und dafür noch Großeltern zu haben. Sie kennen all die alten Geschichten von Tibet und viele Lieder.
    Früher mußten die heiratsfähigen Männer in Amdo gut singen können, sonst haben sie keine Frau abbekommen. In großen Gruppen sind sie damals in die Nachbardörfer gezogen, um unter den Fenstern ihrer Auserwählten zu singen. Wer da keine Luft in den Lungen hatte, mußte mit den Geiernasigen vorliebnehmen, der häßlichen Schwester oder einer grauhaarigen Witwe.
    Großvater hat die schönste Frau bekommen, und er ist immer noch ein guter Sänger.
    Als Paala der Familie mit sorgenvoller Miene eröffnete, daß es zu Losar in diesem Jahr weder neue Kleider für die Kinder noch Biskuits für die Gäste geben würde, schlug Großvater auf den Tisch und rief: »Dann singen wir eben! Solange wir singen, merken die Neujahrsgäste nicht, daß unsere Hosen zu kurz und unsere Teller leer sind!«
    Doch neue Kleider gehören zu Losar wie die Hörner zum Yak. Und die Süßigkeiten müssen auf den Teller wie der Schnee auf die Gipfel der Berge. Das Aufregendste an dem dreitägigen Neujahrsfest ist ja, daß man Besuch von befreundeten Familien bekommt und auch selber in andere Häuser eingeladen wird. Es sind die Tage im Jahr, an denen man sich nach Herzenslust satt essen kann. Die Amalas machen ›Kabzes‹, verschlungene Bänder aus süßem Teig, in Aprikosenkernöl gebacken. Dazu servieren die Väter salzigen Tee und süße Biskuits für die Kinder. Ist man bei einer armen Familie zu Besuch, zeugt es von guter Haltung, die Biskuits auch nach mehrfachem Anbieten dankend abzulehnen. Und jeder im Dorf wußte, daß sie arm waren. Aber es ging um die Geste! Es ging darum, etwas zum Anbieten zu haben! Es ging um den vollen Gästeteller auf ihrem Tisch. Denn Überfluß verspricht Glück für das kommende Jahr.
    Tamding ahnte schon lange, daß die Mutter kein Geld mehr für Süßes haben würde. Denn nach Losar mußte auch das Schulgeld entrichtet werden, das Jahr für Jahr wie ein Bergwiesel in die Höhe kletterte. Amala war dieses Jahr nicht einmal in die Stadt gefahren, um Stoff für neue Chubas und Hosen zu kaufen. Daß sie ihre Kleider noch ein weiteres Jahr tragen müssen, finden nur Mipam und Dorjee schlimm, weil sie schon älter sind und den Mädchen gefallen wollen. Für Tamding ist es noch das Wichtigste, ein guter Schüler zu sein. Und das schafft man auch mit Hosen, die gerade mal über die Knie reichen.
    Nach der Schule will Tamding zu dem Kloster, das vor langer Zeit am Rand ihres Dorfes in einen Berg hineingehauen wurde. So konnte es während der Kulturrevolution nicht zerstört werden. Die Chinesen hätten den ganzen Berg niederreißen müssen. Nur Chenresig, der Buddha des Mitgefühls, mußte seine tausend Arme lassen, wie ein Pfau seine Federn. Daß die neuen Arme nicht vergoldet, sondern nur mit billiger Goldfarbe bemalt sind, hat seiner Autorität nicht geschadet. Und so werfen sich Tamding und Jamjang mit großer

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