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Flucht übers Watt

Titel: Flucht übers Watt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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so.«
    »Ja. Aber is ja noch nich zehn.«
    »Jaja, frische Krabben is was Feines«, sagte Frau Wiese, obwohl ja eigentlich gerade von Fisch die Rede war.
    »Jaja, schöne Krabben«, ergänzte ihr Sohn. »Aber das Pulen.«
    »Ich bin ja zum Heilfasten hier und zum Spurenlesen im Sand«, steuerte auch Silva Scheuermann ihren Teil bei.
    Aus dem Treppenhaus drang jetzt das Geräusch eines Staubsaugers herüber.
     
    |67| Auf seinem Hollandrad radelte Harry im dritten Gang mit dem Wind und ohne Regen nach Steenodde. Den Schlüssel für den Kleiderschrank, in dem sich die Noldes befanden, und auch den Zimmerschlüssel mit dem Holzanhänger hatte er wieder dabei. Die Zeitungsständer vor dem kleinen Laden in dem geduckten alten Reetdachhaus in Nebel waren noch leer.
    »Nee, die Zeitungen kommen erst mit der 1 0-Uhr -Fähre«, raunzte die Frau in dem mit Zeitschriften und Andenken vollgestopften Laden Harry gleich an. Das musste man als Feriengast hier offensichtlich wissen.
    Über dem Wattenmeer türmten sich dunkle Wolken, die von oben von der Sonne beleuchtet wurden. Auf dem Anleger vor dem »Steuerhaus«, das man von einem ausrangierten Schiff ausgebaut und als Verkaufsstand auf der Mole installiert hatte, stand tatsächlich schon eine kleine Schlange: Rentner mit Stoffbeuteln und ein hilflos wirkender junger Vater mit Kind. Zwei Frauen, deren Männer in ihren Autos warteten, liefen nervös um das alte, noch unbesetzte Häuschen herum und sahen immer wieder durch die kleinen Fenster. Zwei andere Frauen mit Plastikeimern, offenbar Amrumerinnen, unterhielten sich deutlich gelassener auf nordfriesisch, das Harry nicht verstand. Als Erster in der Reihe stand der Mann mit dem akkurat gestutzten Bart und der überdimensionierten, gelb getönten Brille, der ihm gestern das letzte Zimmer in der Nachbarpension weggeschnappt hatte. Er dozierte über das Laichverhalten von Schellfisch und Knurrhahn.
    »Na ja, wir essen eigentlich lieber Scholle«, sagte |68| eine der ungeduldigen Frauen, die sich jetzt in die Schlange eingereiht hatten.
    »Die Scholle ist ein Meister der Tarnung. Wussten Sie das?«
    »In der Pfanne nützt ihr dat auch nix mehr«, sagte eine der beiden Amrumerinnen. Die andere lachte und die Umstehenden mussten mitlachen.
    Auf dem japanischen Pick-up, mit dem die Fischersfrau direkt neben dem Steuerhaus vorfuhr, standen mehrere Plastikkisten, randvoll gefüllt mit Krabben. In einer Kiste lagen ein paar Fische. Hauptsächlich Schollen meinte Harry flüchtig gesehen zu haben, als die blonde Frau in der blauen Windjacke die Kisten in ihr kleines Kabuff hievte. Die Kunden in der Schlange reckten die Hälse, um einen Blick auf den spärlichen Beifang zu erhaschen.
    »Na ja, zur Not gibt’s Kotelett«, sagte ein Rentner, der sich zu ihm umdrehte. Er hatte auch einen Stoffbeutel dabei mit einem Leuchtturm drauf.
    Der Mann mit dem rotblonden Bart hatte seinen Kopf weit in das kleine Fenster gesteckt, durch das der Fisch verkauft wurde. Er blieb eine ganze Weile so stehen. Dann wurde sein Kopf wieder sichtbar, er bekam eine erste Plastiktüte herausgereicht, eine zweite und dritte.
    »Na, dann bin ich erst mal für die nächsten Tage versorgt«, sagte er und grinste verkrampft. Dabei waren seine spitzen, schlechten Mäusezähne zu sehen.
    Für eine der beiden Amrumerinnen blieben noch ein paar Sandschollen, die in ihrem Eimer ziemlich verloren wirkten. Dann waren die Fische ausverkauft. |69| Harry kaufte zum Trost eine Tüte Krabben. Wenigstens auf ein Brötchen mit selbst gepulten Nordseekrabben konnte er sich heute Abend oder morgen zum Frühstück freuen. Vielleicht machte Frau Boysen ihm dazu ein Rührei.
     
    Es durchfuhr ihn sofort unangenehm, als er den Typ in dem Fischerhemd aus der Nebeler Mühle herauskommen sah. Im ersten Moment war Harry sich gar nicht sicher, ob er es wirklich war: Kieso, sein ehemaliger Kommilitone von der Hamburger Kunsthochschule, den er noch nie recht leiden konnte.
    Doch der stürmte sofort auf ihn zu: »Mensch, Alter, was machst du hier?«
    »Ja, ich brauchte einfach mal ein bisschen W-wind um die Nase«, stotterte Harry.
    »Ich mach hier grad ’ne Ausstellung«, sagte Kieso.
    »Ach, du bist der mit den Leuchttürmen«, sagte Harry und versuchte dabei, ein überhebliches Grinsen aufzusetzen.
    Er hatte am »Steuerhaus« und auch irgendwo in Nebel ein Plakat gesehen. »Meeresimpressionen« oder so. Am Namen allerdings hatte er ihn nicht erkannt. Denn Kieso nannte sich jetzt offensichtlich

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