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Flucht übers Watt

Titel: Flucht übers Watt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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war selbst schuld.
    »Alter, wir sollten hier langsam abhauen.« Reinhard griff sich sein Rad.
    »Und mit dem Nolde, das kriegen wir zusammen schon gedreht. Da solltest du meine Hilfe annehmen.« Kieseritzky grinste vielsagend. Dann drehte er sich um |107| und schob die Mole hinunter in Richtung seines Kutters.
    »Scheiße, Scheiße   – Oberscheiße«, dachte Harry. In seinem Kopfpochte es dumpf.
    Als Harry mit dem  Fahrrad aufden Sandweg am Watt nach Nebel einbog, tuckerte die »Elsa« ohne die obligatorischen Positionsleuchten hinaus ins Wattenmeer. Auf der anderen Seite öffnete sich die Tür des »Klabautermanns«. Im Gegenlicht stand eine schwankende Gestalt, die Harry imWegfahren nicht erkennen konnte. Vermutlich Strandkorb-Peter. Aus der Kneipe
heraus wehten für einen Moment ein paar Akkorde von ›Nights in White Satin‹ durch den nächtlichen
Nordseeregen.

9
    »Zoe, da steht der Umzugswagen vor der Tür.«
    Nachdem er morgens an seiner alten Pension vorbeigelaufen ist, fehlt Harry die Ruhe, gemütlich zu frühstücken. Zoe macht sich währenddessen gut gelaunt in aller Ausführlichkeit über zwei gebratene Eier mit Speck her und Brötchen mit Krabbensalat.
    Der freundliche Essraum ist lichtdurchflutet. Die farbigen Blumenstillleben, die Zoe »funny« findet und Harry an der Grenze zum Kaufhauskitsch, leuchten tomatenrot und kornblumenblau. Die anderen Gäste sind bereits für einen sonnigen Tag am Meer gerüstet, in Shorts und farbigen Sporthemden, in denen noch |108| eine Bügelfalte steckt. Es soll wie gestern ein heißer Sommertag an der See werden, sagen der Wetterbericht und Nicole an der Rezeption. Harry kennt dieses warme Klima eigentlich nur vom Atlantik in North Carolina, wohin sie öfter zum Baden fahren. Oder früher aus Südfrankreich. Aber nicht von der Nordsee.
    »I love these crabs«, sagt Zoe und leckt sich einen Mayonnaiseklecks von ihren frisch geschminkten roten Lippen.
    Sie hat sich die Sonnenbrille schon ins Haar gesteckt und trägt eine taillierte weiße Bluse, die sie einen Knopf weiter als sonst geöffnet hat. Harry ist das sofort aufgefallen. Fast ist er ein wenig genervt angesichts ihrer entspannten Urlaubsstimmung. Der grau melierte Bankertyp mit dem leichten Bauchansatz unter seinem Poloshirt guckt vom Nachbartisch interessiert herüber, als er das Englisch hört. Mit ihrem kosmopolitischen Ostküstenakzent bringt Zoe gleich etwas internationale Atmosphäre in den Frühstücksraum. Ausländer scheint es auf Amrum immer noch wenig zu geben. Das hat sich nicht geändert. Nur ein paar Satzfetzen Schwyzerdütsch meint er gestern gehört zu haben.
    »Dieser Salat ist nichts gegen die frischen Krabben vom Kutter«, sagt Harry und kommt sich, noch während er das sagt, irgendwie deutsch vor.
    Er rührt einigermaßen lustlos in einem Müsli mit undefinierbarem Trockenobst herum. Auch das Körnerbrötchen ist ziemlich pappig. Dabei hatte er Zoe von dem deutschen Brot vorgeschwärmt.
    |109| »Darling, wie viele von diesen Krabbenbrötchen willst du eigentlich noch essen?«
    Zoe muss lachen. Auf ihren vorstehenden Schneidezähnen klebt eine Krabbe. Sie guckt sich albern zum Nebentisch um und hält sich kichernd die Serviette vor den Mund.
    »Komm, lass uns los. Wir holen uns selbst welche vom Krabbenkutter und sammeln Austern. Wenn es noch welche gibt.«
    »Ha, Krabben. Du willst nur zu deiner   ... Wie heißt das? ›Nordseeperle‹?«
    »Ja, klar will ich da hin«, sagt Harry ärgerlich. Und dann zischt er: »Zoe, es geht immerhin um einen echten Nolde.«
    »Come on. Du hast achtzehn Jahre gewartet. Was ist jetzt eine Stunde?«
    »Vielleicht ist es ja nur ein Zufall. Aber da steht ein Lastwagen vor der Pension. Ich habe es heute Morgen gesehen. Da wird gerade ausgeräumt.« Je länger sie darüber reden, desto mehr glaubt Harry, dass die Zeit ihm davonläuft.
    Am Nebentisch telefoniert die Frau des Bankers laut mit ihren Kindern. »Chérie, wir haben ein Traumwetter. Wir haben gestern Abend draußen gegessen. Und heute Mittag kommen Rademachers mit dem ›Adler‹ von Sylt herüber.«
    Während sie spricht, so laut, dass es der halbe Saal hören muss, nestelt sie mit übertriebener Geste immer wieder an ihren dünnen blondierten Haaren. In den Staaten fände Harry das wahrscheinlich sogar amüsant. Heute Morgen geht ihm die selbstgefällige Telefoniererei |110| auf die Nerven. Er findet die joviale Großspurigkeit abstoßend, mit der das gut erhaltene Frührentnerpaar – der

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