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Flucht übers Watt

Titel: Flucht übers Watt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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eigentliche Arbeit aber ist das Öffnen. Gleich bei der dritten Auster rutscht Harry mit dem Messer von der Schale ab und schneidet sich in die Hand.
    »Attention, Harry!« Zoe kramt in ihren Sachen nach einem Papiertaschentuch. Er merkt kaum etwas, obwohl es ziemlich blutet.
    »Man muss nur schnell ein Glas Muscadet trinken«, sagt Harry.
    Sie sitzen in den Dünen, trinken Wein und schlürfen die Austern, nachdem sie sie mit einem Spritzer Zitronensaft zum Zucken gebracht haben. Vom Strand kommen ein paar Surfer zurück und die letzten Badenden mit Salz in den Haaren und der Sonne des Sommertages auf der Haut. Das Strandgras steht wie mit Bleistift gestrichelt in den Dünen. Und der geriffelte Sand am Ufer sieht im Gegenlicht aus wie ein einziges riesiges Waschbrett. Das Wasser in den tieferen Furchen funkelt. Die Sonne an dem wolkenlosen Himmel steht noch ein ganzes Stück über dem Meer. Doch immer wenn Harry hinsieht, ist sie dem Horizont merklich näher gekommen. Das Licht färbt den Sand schon leicht rosa. Nach dem Austernessen ziehen sich beide aus und gehen zusammen mit der untergehenden Sonne baden.
    Von einem Dutzend Austern wird man nicht satt. Nach dem Baden hat Zoe einen unbändigen Appetit. |117| Und um diese Zeit finden sie in der »Seekiste« doch noch einen Platz an der Bar. Es gibt ein »Bratkartoffelverhältnis« für Zoe, eine Pfanne mit verschiedenen Bratfischen, und für Harry eine friesische Bouillabaisse, die wirklich ausgezeichnet ist.
    »Die Fische aus der Nordsee sind ganz bestimmt nicht schlechter als die aus dem Mittelmeer«, sagt Harry.
    »Nein, sie sind besser«, findet Zoe, als er sie probieren lässt. »And I like that Aioli.«
     
    Die kleinen Straßen zwischen den alten Friesenhäusern in Nebel sind menschenleer, als sie aus dem Lokal kommen. Einzelne Fenster sind erleuchtet. Aber in der »Nordseeperle« ist alles stockdunkel, wie damals in den Nächten, als Harry mehrmals spät nach Hause kam. Im Nachbarhaus brennt Licht. Durch das Sprossenfenster sieht er einen Mann vor dem Fernseher sitzen. Auch bei dem anderen Nachbar brennt Licht hinter den zugezogenen Gardinen.
    Harry greift nach dem Holzanhänger in seiner Hosentasche.
    »Ich versuch mal, ob er passt. Und du stehst Schmiere. Okay?«
    »And who drives the getaway car?« Zoe grinst breit.
    Harry ist auch nicht ganz klar, was sie machen soll, während er sich in der »Nordseeperle« umguckt. Er will jetzt nicht lange diskutieren, sondern endlich nach seinem Bild sehen.
    »Am besten, du hältst denjenigen einfach auf, falls jemand kommt und in das Haus will. Aber wer soll |118| schon kommen. Ich bin sowieso gleich wieder da. Mit oder ohne Bild.«
    »Sei vorsichtig, Honey«, sagt sie. »Überzeug dich erst, dass wirklich niemand im Haus ist.«
    Während Zoe auf dem kleinen Sandweg wartet, geht Harry an dem Betonmischer und den ausrangierten Stühlen vorbei auf das Haus zu. Vorsichtig guckt er sich immer wieder um und auch zur Seite, um sich zu vergewissern, dass er nicht beobachtet wird. Gleichzeitig bemüht er sich, so zu tun, als gehörte er zum Haus. Der Eingang ist durch eine Straßenlaterne recht hell erleuchtet. Die Friesentür ist noch dieselbe wie damals. Da ist er sich sicher.
    Harry führt den kleineren der beiden Schlüssel ins Schloss. Er passt. Als er den Schlüssel dreht, bewegt sich spürbar der Riegel. Harry öffnet die Tür. Unglaublich, denkt er. Eigentlich hatte er nicht damit gerechnet, dass seine Schlüssel immer noch passten. Wie gut, dass er das hässliche Holzei mit dem brüchigen Gummiring all die Jahre in der Schublade seines Sekretärs aufbewahrt hatte. Bislang war das eher ein Souvenir gewesen, ein Erinnerungsstück an seinen ersten Coup.
    Bevor er hineingeht, dreht er sich noch einmal um. Zoe schlendert gerade den Weg ein Stück weiter. Harry zieht die Tür hinter sich zu. Dabei gibt es ein schrilles Schaben, das durch die Nacht hallt. Zwischen Tür und Boden klemmen offenbar Sand und Steine. Denn als er mit der Taschenlampe den Boden des Flurs entlangleuchtet, sieht er überall Reste von Bauschutt.
    Er schaltet die kleine Taschenlampe wieder aus und |119| horcht aufmerksam. Eine Weile bleibt er am unteren Treppenabsatz stehen, um sicherzugehen, dass er allein im Haus ist. Aber es wirkt nicht so, als sei die »Nordseeperle« zurzeit bewohnt. Es sieht alles nach einer Baustelle aus. Aber wer weiß? Vielleicht übernachtet ein Saisonarbeiter vom Festland in einem der Zimmer, während er mit der

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