Flucht übers Watt
Banker muss bestimmt nicht mehr arbeiten – das junge Mädchen vom Service mit irgendwelchen Sonderwünschen immer wieder in die Küche laufen lässt.
Schon im Frühstücksraum hat Harry den Geruch von Sonnencreme in der Nase, wie er ihn nur aus Deutschland kennt. Für einen kurzen Moment ist seine Kindheit wieder präsent: die Erinnerung an lichte Sommernachmittage, an denen er sein kleines Flugzeug mit den rotierenden blauen Plastikflügeln steigen ließ, an eine Klassenreise nach Sylt, wo die Jungs die Mädchen erstmals im Bikini sahen. Aber er riecht auch die traumatische Verschickung an die See, in den Wittdüner Betonbunker, wenn die Kindergärtnerin ihnen rabiat die Nasen mit dieser Sonnencreme einrieb. Erstmals seit Jahren hat Harry wieder Angst, er könne ins Stottern kommen.
Irgendwie hat er das Gefühl, die weltgewandte Zoe sieht ihn auf einmal anders. Nach so langer Zeit zurück in seiner Heimat verhält er sich auf einmal deutsch. So wie die deutschen Touristen, die er in Venedig so verachtet hatte, als sie beide ins »Guggenheim«-Museum eingebrochen waren. Es war ihr zweiter gemeinsamer Kunstcoup. Sie hatten sich vorher mehrere Wochen gleich um die Ecke in der Nähe der Accademia unter falschem Namen ein Appartement genommen. Venedig war ideal für einen Kunstdiebstahl. Die Sicherheitsvorkehrungen waren schlampig. Und die Stadt war voller Touristen, sodass zwei junge Kunstinteressierte |111| nicht weiter auffielen, auch wenn sie sich mehrmals an verschiedenen Tagen im Museum umsahen.
Sie hatten auf dem Balkon mit Blick auf den Kanal gesessen, »Spritz« getrunken und dabei minutiös ihren Einbruch vorbereitet. »Wir sind jetzt richtige Kunstdiebe«, hatte Zoe gesagt und Harry geküsst. In den frühen Morgenstunden, bevor es hell wurde, waren sie vom Canal Grande aus in die »Peggy Guggenheim Foundation« eingestiegen. Danach hatten sie ein Vaporetto genommen und waren mit einem Miró im Handgepäck in den nächsten Zug nach Mailand gestiegen. Es war ganz einfach gewesen. Viel einfacher als ein paar Jahre vorher in Seebüll. Ohne Zwischenfälle, ohne unerwartete Vorkommnisse, elegant, souverän, sicher.
Sie hatten sich damals wie amerikanische Künstler der Nachkriegszeit gefühlt, die in Europa die Zeit totschlugen, ein bisschen malten und tranken, Bilder klauten und sich ihre eigene Moral erfanden. Mit den deutschen Oberlehrern jedenfalls, die im Restaurant den Kellnern ihre Sprachkenntnisse aus dem Italienischkurs auf drängten, wollte Harry nichts zu tun haben.
Und seit er in den USA lebt, benimmt er sich, wie alle ausgewanderten Deutschen, amerikanischer als jeder Amerikaner. Aber alle Thanksgiving-Turkeys und die lässigen Jokes mit den Nachbarn in all den Jahren haben nichts daran geändert, dass er in Wahrheit ein verbissener Deutscher ist. So kommt es ihm plötzlich vor. Er hasst sich dafür. Und das ist erst recht deutsch, denkt Harry.
|112| Gegen Zoes Urlaubslaune ist nicht anzukommen. Der direkte Weg zur »Nordseeperle« mit dem Rad kommt für sie nicht infrage. Sie besteht darauf, am Meer nach Nebel zu gehen, mit ihren rot lackierten Fußnägeln im Wasser. Die Sonne steht hoch über der See in einem hellblauen wolkenlosen Himmel. Die Luft flimmert. Der Hörnumer Leuchtturm auf Sylt liegt leicht im Dunst. Mitten auf dem breiten Strand ist es so heiß, dass die Fußsohlen fast schmerzen. Die Wellen, die diesen Namen kaum verdienen, schwappen müde ans Ufer. Sie versickern halb und hinterlassen Schaumflocken auf dem Sand. Zwei Kinder graben ein kleines Staubecken, in dem sich das ablaufende Wasser fängt. Ein kleines Sportflugzeug brummt Richtung Sylt über Zoe und Harry hinweg.
Nachdem sie den Norddorfer Strand mit seinen bunten Strandkörben hinter sich gelassen haben, sind sie fast allein. Die Hosenränder ihrer Shorts werden beim Durchqueren eines kleinen Priels nass. Aber nach einigen Minuten sind sie fast schon wieder getrocknet. Über die Dünen guckt die Spitze des Norddorfer Leuchtfeuers herüber. Harry kann sich gar nicht mehr vorstellen, dass er genau an dieser Stelle vor achtzehn Jahren fast ertrunken wäre. In der linken Tasche seiner weiten Shorts schlenkert der Zimmerschlüssel von damals mit dem dicken Holzanhänger. Er hat ihn auf jeden Fall mal mitgenommen. Vielleicht gibt es eine Gelegenheit, denkt er.
Ein Stück vor Nebel staken meterlange Holzstangen mit Schoten, Fahnen und grellbunten Plastikkugeln in den Himmel. Es ist eine Skulptur des Amrumer Künstlers |113|
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