Flucht übers Watt
panisch. Denn jetzt ging der Schiffer genüsslich gurgelnd auf ihn los. Sein ursprüngliches Vorhaben, mit ihm etwas zu »beschnacken«, hatte er offensichtlich aus den Augen verloren. Harry versuchte vergeblich, sich seinen kräftigen Griffen zu entziehen. Dabei kam er dem Rand der Mole immer näher. Jetzt hielt ihn der Fährmann mit einer Hand fest am Anorak, mit der anderen am Kragen des Troyers.
»Ich mach euch fertig, ihr arroganten Fatzkes!«
Er zog den Troyerkragen eng um seinen Hals, dass Harry nach Luft japsen musste. Er spürte seine rauen |101| Hände an Kinn und Mund. Harry griff, um irgendwie Halt zu finden, seinerseits in den derben Stoff der Seemannsjacke. Aber er musste seinen Griff sofort wieder lockern. Am Reißverschluss des Pullovers zog der W.D.R.-Mann ihn zu sich herunter, sodass Harry seine Bartstoppeln am Ohr spürte und vom Gestank nach altem Fisch fast betäubt wurde. Zu Harrys Überraschung ließ der Kerl ihn plötzlich mit einer Hand los, aber nur, um seine schwere Faust mit einem gewaltigen Schlag auf seinem Kinn landen zu lassen.
In Harrys Blickfeld drehte sich auf einmal die waagerechte Kante des Anlegers mit den Pollern und dem Steuerhaus nach unten weg. Er sah kurz das scheußliche gelbe Licht einer der Bogenlampen über sich hinwegziehen. Und dann sah er gar nichts mehr. Alles war tiefschwarz und vollkommen still. Kein Gurgeln des Fährmanns, keine Wellen, die an die Dalben schlugen, und kein Kieseritzky. Für einen kurzen Moment hatte er den Geschmack von Blut auf der Zunge – zusammen mit dem von Sauerfleisch, irgendwie trocken, aber ganz intensiv nach sauren Zwiebeln.
»Scheiße, das war’s«, dachte Harry noch.
Und dann zog nicht sein bisheriges Leben an ihm vorüber. Nein, das letzte Bild, das er vor Augen hatte, war die schmiedeeiserne Möwe im Flug mit integriertem Barometer in der »Nordseeperle«. Seltsam.
Lange konnte er nicht weg gewesen sein. Als er zu sich kam, roch er gleich wieder den Gestank von alten Schollen und hörte direkt über sich das röhrende Gurgeln des W.D.R.-Mannes.
|102| »Ja, großer Meister, schön wieder aufwachen. Jetzt nich hier einen auf toten Mann machen.« Der Schiffer klapste ihm mit seiner rauen Hand auf die Wangen.
Es regnete nicht mehr, und der kreisrunde Mond schien kalkweiß zwischen zwei dramatisch beleuchteten Wolken hervor. Ein paar Austernfischer piepten schrill. Im Gegenlicht strahlte der obere Rand der W.D.R.-Mütze und ein paar gelbe Haare. Harry sah nur die Umrisse des untersetzten Fährmanns, der über ihm hockte. Ihm war kotzübel.
»Verdammte Scheiße«, zischte er kaum hörbar.
»Bevor du hier wegkippst, wird erst noch bezahlt.« Mit jedem Satz pustete er Harry eine neue Ladung Schollenmiefins Gesicht. Unter sich, beängstigend nahe, hörte er die Wellen an den Ponton schlagen.
»Ich hab kein Geld, verdammt noch mal. Wie stellst du dir das vor.«
»Versuch bloß nich, mich zu verarschen. Mit euch Scheißtouristen werd ich noch lange fertig.«
Der Fährmann wurde wieder richtig sauer. Er packte Harry jetzt am Kragen seines Troyers und drückte seinen Hals und Kopf auf den harten und nasskalten Asphalt. Am Hinterkopf glaubte Harry das eiskalte Metall eines Pollers zu spüren.
»Wir können sofort Hark Bescheid sagen«, brüllte er.
Harry bekam keine Luft. Aber das Röcheln, das er hörte, stammte nicht von ihm.
»Scheiße. Wer ist Hark?«, japste Harry.
»Grrörrrchrr.«
Der Schiffer, der jetzt immer wütender wurde, zog |103| ihn am Kragen ein Stück zu sich hoch. Eine Windbö heulte laut auf und brachte das Metall der Peitschenlampen zum Klappern. Hinter ihm sah Harry plötzlich die leicht schwankende Gestalt von Kieseritzky. Erst kurz vom gelben Neonlicht der Hafenlaterne beleuchtet, dann als Umriss erkennbar, kam er mit langsam wiegenden Schritten näher. In den Händen hielt er einen großen Ruderriemen. Bei dem Sturm und seinem eigenen lauten Gegurgel bemerkte der Fährmann den von hinten sich nähernden Kieso nicht.
Reinhard fasste den Riemen mit beiden Händen am Griffende. Wie zur Probe machte er eine halbe Ausholbewegung. Dann fasste er mit einer Hand noch einmal nach. Um richtig Schwung zu holen, drehte er sich wie ein Hammerwerfer mit dem Ruder einmal um die eigene Achse. Bei der zweiten Drehung machte Kieseritzky einen Schritt nach vorn. Der durch die Luft kreisende Riemen schlug mit einem dumpfen Krachen seitlich auf den massigen Kopf des Fährmanns. Es war nicht mal laut. Aber es hörte sich
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