Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Flucht übers Watt

Titel: Flucht übers Watt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
geschrieben.«
    Darauf war Harry überhaupt nicht vorbereitet. Er trat einen Schritt zurück, sodass der Fährmann mit seinem Finger leicht schwankend ins Leere zeigte.
    »Kannst mir nix erzählen. Dat is dat Bild aus ’m Museum.«
    Wieder versuchte er Harry zu fixieren, womit er aber Mühe hatte. Offensichtlich war er noch betrunkener, als Harry geglaubt hatte. Darin sah er seine Chance. Er täuschte den Fährmann kurz an, als ob er links an ihm vorbei wollte, um dann im letzten Moment auf der rechten Seite zwischen ihm und dem Kondomautomat vorbeizuschlüpfen wie ein Fußballspieler bei einem Dribbling.
    »Reinhard, lass uns sehen, dass wir hier Land gewinnen«, sagte Harry, als er etwas kurzatmig wieder oben an der Theke stand. Kieseritzky war gerade damit beschäftigt, die letzten Zwiebelringe aus dem Aspik zu pulen.
    »Zahlen«, sagte Harry und legte eilig einen Zwanzigmarkschein auf den Tresen.
    »Nu mal ganz ruhig!« Kieso wischte sich mit der |98| Papierserviette ein Stück Gelee aus seinem Fusselbart.
    »Ich muss hier schnell raus«, zischte Harry ihm zu. »Möglichst bevor der Käpt’n wieder hoch kommt. Der ist mir eben im Klo auf die Pelle gerückt.«
    »Was hast du denn mit dem Blödmann am Hut?« Kieseritzky guckte zunächst verständnislos. Aber als Harry ihn an seinem Fischerhemd zog, trennte er sich bereitwillig von den Resten seines Sauerfleisches. Im Aufstehen nahm er noch einen kräftigen Schluck aus seinem Pilsglas.

8
    Als die beiden mit ihren Fahrrädern in Steenodde auf die Mole schoben, hörten sie den Fährmann hinter sich herbrüllen.
    »Moment, großer Meister. Hiergeblieben.« Seine krakeelende Stimme war trotz des Sturmes deutlich zu verstehen. Es hatte wieder zu regnen begonnen und es war Hochwasser. Wellen schlugen in kurzen Abständen gegen die dicken Holzdalben des Anlegers. Vom nahen Wittdün leuchtete der Fähranleger im Dunst herüber.
    »Was hast du Knallkopf denn für Probleme?«, schrie Kieseritzky mit deutlich dünnerer Stimme zurück. »Sieh man zu, dass du an deinen Tresen zurückkommst.«
    »Mit euch halben Portionen vom Festland werd ich noch lange fertig.«
    |99| Erstaunlich schnell und nur wenig schwankend kam der W.D.R.-Mann hinter ihnen her auf den in gelbes Licht getauchten Anleger.
    »Du hältst dich da raus!«
    Jetzt ging er mit seinem dicken Zeigefinger auf Kieso los. »Ich hab hier wat mit deinem Kumpel zu beschnacken.«
    Röhrend und gurgelnd zog er Schnodder nach oben. »Grrörrch.« Kieseritzky schlug seinen Arm mit dem ausgestreckten Finger beiseite. »Jetzt tickst du wohl völlig aus.«
    Der W.D.R.-Mann schubste Kieso ein Stück weg und wandte sich Harry zu. Er kam ihm mit seinem Gesicht, das nicht mehr ganz so tiefrot wirkte, ganz nah. Er stank aus dem Mund penetrant nach Bier und fünf Tage alten Schollen.
    »Grrörrl«, kam es unter der Schiffermütze hervor. Das Gesicht war kaum zu erkennen, nur die stahlblauen Augen.
    »Zehntausend. Dat muss drin sein.«
    Er versuchte Harry am Anorak zu fassen. Der konnte seinem Griff ausweichen. Harry gab ihm einen kleinen Schubs. Der Fährmann geriet ins Stolpern, konnte sich aber auf den Beinen halten.
    »Ihr seid doch Verbrecher«, schrie er jetzt. »Ich weiß genau Bescheid. Wenn ihr mich nicht beteiligt, schick ich euch Hark auf’n Hals.«
    Zwei- bis dreimal schubsten die beiden ihn noch zwischen sich hin und her, ein paar Meter den Anleger hinunter am Steuerhaus des Krabbenkutters vorbei.
    »Wat weißt du Bescheid?«, rief Kieseritzky. »Wat |100| fantasierst du da für Zeugs zusammen? Hast wohl ’n paar Bier zu viel gehabt.«
    »Frag deinen Kumpel, ich hab dat Bild gleich erkannt«, brüllte der Fährmann. Und jetzt war sein Gesicht wieder purpurrot.
    »Grrörrl, chrörr.« Er zog den Schleim die Nase hoch und spuckte auf den Asphalt aus.
    »Ich würd mal sagen, jetzt geht das mit unserem Sailor langsam ab in die Kajüte.«
    Dabei grinste Kieso Harry kurz zu. Aber genau das war ein Riesenfehler. Denn der untersetzte Fährmann holte weit aus zu einem schwungvollen Schlag, halb Backpfeife, halb Schwinger, der Kieseritzky unvorbereitet am Kopf traf. Harry sah kurz seinen erstaunten Gesichtsausdruck. Dann flog Kiesos fabrikneue Schiffermütze im grellen Gegenlicht der Laterne wie in Zeitlupe im hohen Bogen auf den Asphalt der Mole. Und Reinhard Kieseritzky flog mit unverändert erstauntem Ausdruck in deutlich kleinerem Bogen und irgendwie zügiger hinterher. Er blieb regungslos auf dem Teer liegen. Harry wurde

Weitere Kostenlose Bücher