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Flucht übers Watt

Titel: Flucht übers Watt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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standen nur noch Pfützen. Es regnete an diesem Morgen nicht mehr. Hinter den Wolken über den Halligen ließ sich sogar die Sonne erahnen.
    Harry war gleich nach dem Frühstück losgefahren. Heute wollte er wenigstens ein paar kleine Sandschollen ergattern. »Bloß nicht wieder Sauerfleisch!«, hatte er zu Frau Boysen gesagt.
    »Ja, und dann lassen Sie die Krabben den ganzen Tag im Kühlschrank liegen«, hielt die Pensionswirtin ihm vorwurfsvoll entgegen.
    »Na ja, schmecken doch auch heute Morgen noch«, hatte Harry gesagt und den anderen Gästen von seinen Krabben angeboten. Der dicke Hans-Peter hatte bereitwillig zugegriffen, während Silva Scheuermann ihn nur sehr intensiv angeguckt und mit ihren Holzperlen im Haar geklimpert hatte.
    Mehr als der frische Fisch interessierte Harry aber, ob etwas von dem toten Fährmann zu sehen war. Auf dem Weg mit dem Rad nach Steenodde hatte er in seiner Fantasie einen Polizeiwagen mit rotierendem Blaulicht vor Augen und mehrere Beamte, die eine Wasserleiche auf den Steg hievten. Harry hatte eine unruhige Nacht hinter sich. In einem Alptraum waren |123| ihm der W.D.R.-Mann Arm in Arm mit der Putzfrau aus dem Nolde-Museum entgegengekommen. Dabei grölten sie einen Shanty. Der Schiffer benutzte den Wischmopp der Putzfrau wie einen Spazierstock, und im Traum war es nicht Kieseritzky, sondern die Reinmachefrau, die den Ruderriemen über ihrer violett leuchtenden Dauerwelle schwang. Dazu hatten die beiden blöd lachend ›Blow, boys, blow‹ gesungen und waren immer näher gekommen.
     
    Heute ergatterte Harry einen der vorderen Plätze in der Schlange vor dem Steuerhaus. Es waren zum großen Teil wieder die Leute von gestern, als Erster natürlich der Typ mit dem rotblonden Bart und der großen gelb getönten Brille. Heute dozierte er über das Laichverhalten des Steinbutts und danach auf einmal über die Malerei von Emil Nolde. Das war schon seltsam. Harry hatte es gar nicht richtig mitbekommen, weil der Rentner von gestern mit dem Stoffbeutel ihn ansprach.
    Während sie auf den Fisch warteten, suchte Harry immer wieder nervös das Watt und auch das Wasser ab. Zu lange und intensiv mochte er auch nicht gucken. Die Leute sollten sein Interesse auf keinen Fall mitbekommen. Vom Fährmann war offenbar nichts zu sehen. Aber dann bemerkte Harry ein ganzes Stück weit draußen, noch im Watt, das schon fast wieder überspült wurde, einen verdächtigen weißen Fleck. Er war sich nicht ganz sicher, aber das musste die weiße W.D.R.-Mütze sein.
    Als die Fischersfrau mit ihrem Pick-up vorfuhr, |124| machte sich eine Möwe an dem weißen Fleck zu schaffen. Harry musste sich zwingen, nicht immer wieder hinzusehen. Für einen kurzen Moment kam die Sonne heraus. Der Typ mit der gelben Brille blinzelte. Inmitten seines akkurat gestutzten Bartes waren kurz seine spitzen Zähne zu sehen. Harry kam es vor, als ob er jetzt ebenfalls den verdächtigen weißen Fleck beobachtete und ihm, Harry, dann einen misstrauischen Blick zuwarf. Aber was sollte der Typ mit den Rattenzähnen schon wissen? Die Möwe schien auf die Schiffermütze einzuhacken, als wollte sie dem Fährmann den Rest geben. Doch jetzt forderten die Plastikkisten der Fischersfrau glücklicherweise die ganze Aufmerksamkeit der wartenden Kundschaft.
    »Fisch ist heute nicht«, rief sie den Leuten zu, während sie drei blaue Kisten mit Krabben in ihr kleines Kabuff hievte. »Er war wegen des Wetters gar nicht richtig draußen.« Und dann zog sie an dem Mast erst mal die Flagge hoch, das Zeichen, dass das Steuerhaus besetzt war.
    So tragisch fand Harry es gar nicht, dass es nicht einmal Schollen gab. Der enttäuschte Blick der »Ratte« mit der gelben Brille, die beleidigt den Verkaufsstand sofort wieder verließ, entschädigte ihn für den entgangenen Fisch.
    »Gibt es eben wieder Kotelett«, wiederholte der Rentner mit dem Leuchtturm-Stoffbeutel seinen Spruch von gestern noch mal.
    Das wäre immerhin eine Alternative zum Sauerfleisch, dachte Harry. Er nahm wieder ein paar Krabben und bestieg sein Rad. Die W.D.R.-Mütze dümpelte |125| inzwischen im auflaufenden Wasser. Vom Fährmann weiterhin keine Spur.
    Von einer Telefonzelle in Nebel rief er bei sich zu Hause an. Er musste Ingo Warncke jetzt wohl doch mal verständigen, dass er seinen alten Kadett erst mal abschreiben konnte. Harry hörte das Freizeichen und hatte Herzklopfen. Er war nervös. So recht wusste er nicht, wie er Ingo die Geschichte beibringen sollte. Deshalb war er ganz

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