Flucht übers Watt
Renovierung beschäftigt ist. Zu hören ist nichts.
Als er die Treppe hinaufleuchtet, hat er sofort das schmiedeeiserne Möwenbarometer im Kegel seiner Taschenlampe und auch den Leuchtturm aus Wäscheklammern. Unfassbar, denkt Harry, all die Jahre hängt das hier unverändert. Auch wenn die Wäscheklammern durch die Bauarbeiten jetzt böse eingestaubt sind. Wahre Kunst überlebt ihre Zeit, sagt er sich. So ist er auf einmal ganz zuversichtlich, dass er oben in dem Zimmer »Eiderente« fündig wird. Er spürt seine Aufregung.
Vorsichtig steigt er Schritt für Schritt die Treppe hinauf. Die braun geflammten Fliesen sind mit einer feinen hellen Staubschicht überpudert, sodass sich Fußspuren gar nicht vermeiden lassen. Auch oben wirkt alles unverändert. Die Keramikschilder mit den Zimmernamen hängen noch an den Türen: »Seeschwalbe«, »Lachmöwe« und »Eiderente«. Es gab noch einen anderen Zimmernamen. Er kommt nicht drauf. Aber das ist jetzt egal.
Er drückt die Klinke der Tür mit der Eiderente. Sie ist unverschlossen. Den Schlüssel kann er wieder einstecken. Harry hat Herzklopfen. Er glaubt sich kurz vor seinem Ziel. Doch dann, als er das Zimmer betritt, |120| den schwachen Lichtkegel seiner Taschenlampe auf den Boden gerichtet, folgt sofort die Ernüchterung. Im selben Moment wirft der Leuchtturm kurz sein Licht in den Raum. In ein leeres Zimmer. Kein einziges Möbel, kein Teppich und vor allem: kein Bild. Absolut nichts. Die »Eiderente« ist vollständig leergeräumt.
»Verdammte Scheiße«, sagt er laut, ohne Rücksicht, dass er vielleicht zu hören ist. Falls sich doch jemand im Haus befindet.
Nur ein einsamer Zementsack steht mitten im Raum und in dem Erker eine ganze Batterie eingestaubter leerer Bierflaschen. Der Leuchtturm blinkt alle paar Sekunden durch das Fenster. Er hört ein Geräusch, nicht von unten, sondern eher aus einem der anderen Gästezimmer. Harry hält inne und lauscht. Es bleibt still. Er sieht aus dem Fenster nach draußen. Auf dem Sandweg in Höhe des Nachbarhauses sieht er Zoe stehen, im Gespräch mit einer anderen Frau, die einen Schäferhund dabeihat. Was hat denn das zu bedeuten? Aber dann geht die Frau mit dem Hund weiter.
»Shit, ich hätte früher kommen sollen«, flüstert er jetzt leiser zu sich selbst. Harry ist sich sicher, dass der Raum erst vor kurzem entrümpelt wurde. An der Stelle, wo das Bild an der Wand hing, ist die Tapete heller. Das ist auch im schwachen Licht seiner Taschenlampe zu sehen.
Dieser Scheißleuchtturm aus beschissenen Wäscheklammern hängt da noch im Flur, denkt er. Warum sind ausgerechnet die Sachen aus dem blöden »Eiderente«-Zimmer weg?
|121| Harry guckt auch noch mal in die anderen Räume. »Austernfischer« hieß das vierte Zimmer. Auf einmal fällt es ihm wieder ein. Auch die anderen Räumlichkeiten sind leer. In einer Ecke steht ein auseinandergenommenes altes Bett. Außer ihm ist niemand im Haus. Da ist er sich jetzt sicher. Aber das Bild mit den Amrumerinnen ist nirgends zu sehen.
Als er die alte Friesentür hinter sich schließt, möglichst langsam, um das laute Schaben zu vermeiden, ist er sich nicht mehr sicher, ob die Tür einmal abgeschlossen war oder zweimal. Während er den Schlüssel aus dem Schloss zieht, hört er hinter sich das Hecheln eines Hundes. Der Schäferhund, den er eben aus dem Fenster beobachtet hatte, steht hinter der Gartenpforte und guckt interessiert mit schief gelegtem Kopf. Harry wählt die andere Richtung. Er läuft am Haus entlang in den hinteren Garten. Ohne zu überlegen wechselt er auf das Nachbargrundstück. Im Dunkeln stolpert er dabei fast über einen kleinen Wall, der mit wilden Nordseerosen bepflanzt ist. Er läuft noch ein Stück weiter bis zu einer Einfahrt. Kaum erreicht er an einer hohen Hecke entlang den Sandweg, steht der interessierte Hund direkt vor ihm, diesmal zusammen mit seinem Frauchen.
»’n Abend«, sagt Harry, möglichst selbstverständlich.
Ein Stück weiter Richtung Watt sieht er Zoe stehen. »Es ist nicht zu fassen«, sagt sie. »Du warst kaum in dem Haus, schon ist hier die halbe Insel vorbeigekommen. Vor allem dieser deutsche Hund, der wollte überhaupt nicht wieder gehen.«
|122| 10
Wie Rauch aus einem Schornstein zog sich ein Wolkenband quer über den Himmel. Die Dalben des Steges in Steenodde, an denen sich in der letzten Nacht die Wellen gebrochen hatten, standen jetzt im Trockenen. Das Wasser hatte sich vielleicht hundert Meter zurückgezogen. Auf dem Watt
Weitere Kostenlose Bücher