Flucht übers Watt
Hals, zog seinen Kopf zu sich herunter und presste ihre geöffneten Lippen auf seine. Und auch Harry öffnete seinen Mund, obwohl er es ganz sicher nicht wollte. Es war wie ein Reflex. Im selben Moment steckte ihm Silva Scheuermann ihre Zunge bis in seinen entzündeten Hals. Er konnte gar nicht so schnell begreifen, was er hier machte. Er überlegte fieberhaft, wie er bloß aus der Situation herauskommen könnte, während sie ihn weiter küsste.
Aus dem Nebenraum waren die Stimmen des Kommissars und der Pensionswirtin zu hören, durch die Wand gedämpft, aber das meiste war zu verstehen.
»Viel Gepäck hat unser Herr Heide wirklich nicht dabei. Das sind ja nur ein Hemd und ein Pullover.«
»Sag ich doch!« Meret Boysens Stimme klang leicht unwirsch. »Der ist nur mit der Tüte gekommen. Wo die bloß hin ist?«
»Wird er wohl entsorgt haben«, sagte Hark Tadsen.
»Das hätt’ ich doch mitkriegen müssen.«
Nur gut, dass er seine Klamotten noch nicht dabeihatte |245| , dachte Harry. Sonst wären die drei erst recht alarmiert gewesen.
»Was ist denn das hier?«, hörte er Seehases Stimme, deutlich lauter als vorher.
»Dat? ’ne Postkarte«, sagte Hark Tadsen knapp.
»Ja und? Was ist darauf zu sehen?«
»Ja, nich viel, nä ... bunt is sie ja.«
»Emil Nolde, Herr Tadsen. Der Kunstraub.« Wieder meinte Harry durch die Wand hindurch den Kommissar an seinem Gebiss schlotzen zu hören.
Währenddessen kam Silva mit ihrer Zunge erst richtig in Fahrt. Dabei starrte sie ihn durch ihre rote Brille, die sie beim Küssen nicht abgesetzt hatte, mit ihrem intensiven Blick an. Sie schmiegte sich an ihn, wobei ihre Holzperlen im Haar klimperten und sich ihr Morgenmantel leicht öffnete. Ihre Haut schimmerte käsig weiß.
»Was machen wir hier eigentlich?«, flüsterte Harry und versuchte sie von sich wegzudrücken. Allzu laut protestieren konnte er ja leider nicht.
»Du hast es doch auch gespürt«, flüsterte sie. Ihr Blick saugte sich leidenschaftlich an ihm fest. »Ich hab dich gleich gewollt.«
»W-w-wie bitte?« Er hatte den Geschmack ihres Fencheltees auf der Zunge.
»Ich weiß ja, dass du der Bilderdieb bist. Und wenn du mich mitnimmst, dann verrate ich dich auch nicht.«
»Wie kommst du bloß auf die Idee?«
»Komm mir nicht mit dieser Unschuldsmiene! Wirklich nicht!« Ihre Stimme wurde streng und schon wieder etwas quäkend, sodass Harry befürchtete, man |246| könnte sie im Nebenzimmer hören. Doch dann flüsterte sie wieder sanfter.
»Nimm mich mit. Ich will mit dir und deinen Bildern fliehen. Lass uns einfach durchbrennen bis ans Ende der Welt. Wäre das nicht aufregend?« Jetzt schnappte sie völlig über. »Ich will auch geraubt werden.«
Sie versuchte Harry erneut an sich zu ziehen. Aber der sperrte sich jetzt. Was hatte diese Verrückte für abartige Ideen? Dachte sie, dass er zusammen mit ihr auf eine Weltreise gehen wollte – nach Burkina Faso vielleicht?
»Wie kommst du darauf?«, fragte er. »Ich meine, wie kommst du darauf, dass ich Bilder geklaut haben soll?« Gleichzeitig versuchte er zu verstehen, was im Nebenraum gesprochen wurde. Doch er hörte jetzt nur laute Schritte und das mehrmalige Klappen der Schranktür.
»Ich habe sie gesehen«, sagte sie triumphierend und blickte demonstrativ auf die Plastiktüte in seiner Hand.
»Bitte?«
»Ich hab die Bilder gesehen. In der Tüte in deinem Schrank. Das Ölbild und drei Aquarelle.« Ihre Stimme wirkte jetzt eher ärgerlich – fast lauernd, fand Harry.
»Ich war in deinem Zimmer. Das war ja nun wirklich keine Kunst, dort hineinzukommen. Und mein Schrankschlüssel passt auch bei deinem. Es sind wirklich wundervolle Bilder.« Sie schlang trotzig erneut ihre Arme um seinen Hals. »Aber sie gehören nicht mehr dir allein, mein Schatz.«
|247| Er hatte sich also nicht getäuscht, es war jemand an der Tüte mit den Bildern gewesen. Und ausgerechnet seine liebestolle Zimmernachbarin. Die Situation schien ausweglos. Wie sollte er da nur wieder herauskommen?
Die Rettung kam ganz plötzlich und von unerwarteter Seite. Aus seinem Zimmer waren wieder ganz deutlich die Stimmen von Seehase und seinem uniformierten Kollegen aus Nebel zu hören.
»Sie wollten doch – wie heißt sie gleich? – noch mal verhören«, erinnerte Tadsen den Kieler Kommissar.
»Ja, richtig. Sagen Sie, Frau Boysen, wie heißt die Dame gleich? Scheuermann ... äh?«
»Ja, die Dings.«
»Also, welches Zimmer hatte denn Frau Scheuermann ... äh,
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