Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Flucht übers Watt

Titel: Flucht übers Watt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
Vom Netzwerk:
Gerüstes beachtete er gar nicht recht. Er stieg so schnell nach oben, dass sein Puls hämmerte. Wegen der Erkältung war er nicht sonderlich gut in Form. Als er etwa die Hälfte geschafft hatte, hörte er Silva den Leuchtturm betreten. Ihm war, als kämen ihre schnellen Tritte bedrohlich näher.
    »Warte doch!« In dem steinernen Turm hallte ihre Stimme schrill und fordernd. »Harry Heide, so entkommst du mir nicht.«
    Er vergaß schlagartig seine schwache Kondition und nahm die Stufen noch schneller. Die Plastiktüte mit den Bildern war ihm dabei etwas hinderlich. Die Tüte drehte sich in seiner Hand immer wieder, dass er Angst hatte, die Bilder zu verknicken.
    |254| In dem hohen Raum unter dem Leuchtfeuer, in dem die Wendeltreppe endete und in dem früher auch der Leuchtturmwärter übernachtet hatte, standen mehrere verrostete Eisengitter an die Wand gelehnt. Offenbar hatte man mit den Renovierungsarbeiten des Leuchtturmes doch schon begonnen. Aber die Gitter interessierten nicht. Etwas anderes forderte sofort seine ganze Aufmerksamkeit. Die schmale Stiege, die zu der umlaufenden Aussichtsgalerie hinaufführte, war auf einmal mit mehreren rotweiß gestreiften Plastikbändern abgesperrt. Das konnte er jetzt überhaupt nicht gebrauchen, wenn Silva an ihm vorbei nach oben gehen sollte.
    Hastig zerrte er an den Plastikstreifen. Sie rissen nicht. Der Kunststoff war so elastisch, dass er sich immer weiter dehnte, je mehr er daran zog. Er hätte einen spitzen Gegenstand gebraucht, um die Folie einzuschneiden. Harry suchte hektisch seine sämtlichen Taschen ab. Er zog den Holzanhänger mit der »Eiderente« aus der Anoraktasche. Mit dem stumpfen Bart des Schlüssels bohrte er Löcher in das rotweiße Plastikband. Er musste schnell machen. Silvas Schritte kamen immer näher. Als die Folie erst einmal gerissen war, konnte er sie von dem Geländer herunterziehen.
    Er klaubte das Band eilig zusammen und nahm den anderen Zugang mit der steilen Leiter zu dem schmalen Steg hinauf, der im Inneren des Leuchtturms fast einmal um die Prismen herumführte. Harry konnte von hier auf den Aussichtsbalkon hinunterblicken. Aber so lange wollte er sich hier gar nicht aufhalten. Sobald sich Silva auf dem Balkon befinden würde, |255| wollte er so schnell wie möglich den Turm wieder verlassen. Harry stutzte. Jetzt sah er auf einmal, warum die Treppe mit dem rot gestreiften Plastikband gesperrt war. Nicht nur das Geländer des Rundbalkons, auch Teile der Bodenplatten waren abmontiert. Natürlich, die Gitter, an denen er eben gerade vorbeigelaufen war.
    Da hörte er, wie seine Verfolgerin hechelnd den Vorraum mit der Schlafkoje erreichte. Sie blieb kurz stehen. Jetzt konnte er sie noch warnen. Er lauschte ihrem schweren Atem, und sofort hatte Harry die grauenhafte Kussszene vorhin in der Pension wieder vor Augen. Er bekam plötzlich eine richtige Wut auf diese blöde Tussi mit ihren Kräutertees und ihrem Bademantel aus Burkina Faso. Warum konnte sie ihn nicht endlich in Ruhe lassen? Selbst Schuld, wenn sie ihm überall hinterherrannte.
    Er ließ sie die Stiege hinaufsteigen. Jeder einzelne ihrer Schritte hallte metallisch durch den ganzen Turm. Oben angekommen, öffnete sie die schwergängige Tür. Harry sah von oben ihr hennarotes Haar und den roten Anorak in der Türöffnung erscheinen. Nach ihm suchend, den Blick zu Seite gewandt, trat sie hinaus auf den Aussichtsbalkon. Und jetzt war kein metallenes Auftreten zu hören. Für einen kurzen Moment hörte er gar nichts. Nur das Heulen einer Windbö und ein kleiner Regenschauer, der gegen die Fenster des Leuchtturms spritzte. Harry sah durch die mit Regentropfen besprenkelten Fenster schemenhaft, wie der rot leuchtende Anorak nach unten weggerissen wurde. Und dann war gar nichts mehr zu sehen.
    |256| Wirklich seltsam, schoss es Harry durch den Kopf, das war wie bei Kieseritzky. Wie ein Zaubertrick. Auch Silva schien einfach zu verschwinden, wie das weiße Kaninchen eines Magiers. Aber dann hörte er auf einmal ihren durchdringenden quäkenden Schrei, der leiser wurde und dann abrupt erstarb. Er vernahm das Geräusch brechender Zweige und berstenden Holzes. Von seiner Empore aus konnte er nicht direkt am Turm hinabsehen. Er eilte die Leiter in den Vorraum hinunter und die andere zum Aussichtsbalkon gleich wieder hinauf. Als er die oberste Stufe mit dem Austritt erreicht hatte, sah er sie. Sie hing weit unter ihm in einer der großen alten Kiefern, die am Fuße des Leuchtturms standen. Nur

Weitere Kostenlose Bücher