Flucht übers Watt
den Rest der Dachschräge hinunter. An der Kante brach noch ein kleines Stück Reet ab. Dann landete Harry tatsächlich direkt vor der Küche, in der sich glücklicherweise niemand befand.
Bei dem Sprung vom Dach war er kurz auf die Seite gefallen. Er sprang schnell auf und lief, ohne sich umzudrehen, über das freie Rasenstück an den beiden Obstbäumen vorbei hinter ein Gebüsch aus Fliederbeersträuchern. Über den kleinen Wall schlich er sich geduckt im Schatten der Büsche auf das Nachbargrundstück. So liefer am Rand einer Pferdeweide von Grundstück zu Grundstück durch die Gärten Richtung Watt. Sein Fahrrad musste er erst mal zurücklassen. Es stand nur wenige Meter entfernt von Seehases rotem »Scorpio«.
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Harry ging ein Stück am Watt entlang. Sein Anorak und die Hose hatten durch die Rutschpartie über das nasse bemooste Reetdach grünbraune Streifen bekommen. Er guckte sich ständig um, ob er irgendwo einen der beiden Polizeiwagen entdecken konnte. Harry hatte absolut keine Idee, wo er jetzt bleiben sollte. Bis zur Abfahrt seiner Fähre hatte er noch fast zwei Stunden Zeit. Und vorher wollte er unbedingt noch an die ›Öömrangen‹ über dem Bett in seinem Pensionszimmer heran. Aber dazu musste die Luft rein sein. Vom Weg am Watt aus beobachtete er die Pension. Aber der Ford des Kieler Kommissars stand noch immer vor dem Haus.
Eine Weile drückte er sich in den kleinen Stichstraßen herum, jederzeit bereit, schnell kehrtzumachen oder in einer Einfahrt hinter einem Gebüsch aus wilden Nordseerosen in Deckung zu gehen. Wenigstens regnete es nicht mehr. Über dem Wasser war der Himmel diffus grau wie hinter einer Milchglasscheibe. Dazwischen schwebten ein paar weiße Puffwölkchen. Auf dem Wattweg kam ihm der Austernsammler mit einem gut gefüllten Eimer entgegen.
»Moin«, sagte er, »Wie sieht’s aus mit Austern?«
»Danke, heute nicht.«
In einiger Entfernung sah er jetzt das Auto von Seehase über den Uasterstigh fahren. Harry drehte schnell in Richtung »Nordseeperle«. Dort stand stattdessen jetzt der grün-weiße Polizeiwagen vor der Tür. Am Steuer saß, groß und breit, Hark Tadsen. Er biss in |252| ein Brötchen und las die ›Bild‹-Zeitung. Das verhieß nichts Gutes.
Ganz offensichtlich suchte die Polizei jetzt nach ihm. Die Chancen, vor der Fährabfahrt an sein Bild zu kommen, sanken mit jeder Minute. Aber er durfte nicht so einfach aufgeben. Vielleicht würde es Tadsen in seinem »Jetta« ja bald langweilig werden und er rückte wieder ab. Bis dahin wollte er zum Strand gehen, wo er jeden möglichen Verfolger von Weitem sah. Oder vielleicht auf den Leuchtturm? Als er durch Nebel Richtung Meer lief, sah er schon wieder den roten Ford kommen, der offenbar gewendet hatte, wahrscheinlich um den Ort nach ihm zu durchkämmen. Seehases Kopf mit der wildledernen Schiffermütze, der eben gerade über den Rand des Seitenfensters hinwegguckte, zog in einigem Abstand gemächlich an ihm vorbei.
Anders als am Watt hing über dem Meer ein tiefschwarzer Himmel. Davor standen auf einer kleinen Düne, grell von der Sonne beschienen, ein paar letzte Strandkörbe. Als Harry über den breiten Strand ein Stück Richtung Wittdün gegangen war, schlugen ihm die ersten dicken Regentropfen ins Gesicht. Er musste sich schnellstens irgendwo unterstellen. Die Lokale in einem der Dörfer waren ihm jetzt zu brenzlig. Da könnte jederzeit die Polizei auftauchen. Und so ging Harry noch einmal zu seinem Lieblingsort.
Vor dem Leuchtturm war ein neues Schild angebracht, das gestern noch nicht dort hing: »Wegen Bauarbeiten bis auf Weiteres geschlossen.« Die Eingangstür war dennoch geöffnet. Bauarbeiter waren nicht zu |253| hören und auch sonst war niemand in Sicht. Er wollte gerade das Innere des Turms betreten, als er sich kurz umdrehte.
»Das darf nicht wahr sein«, fluchte er. »Verdammt, die Alte entwickelt sich zu einer echten Plage.«
Silva Scheuermann, im roten Anorak, radelte wieder auf ihrem Hollandrad die Auffahrt zum Leuchtturm entlang. Und sie hatte ihn wohl bereits gesehen, denn sie beschleunigte in dem Moment. Aber warum sollte er es nicht wieder so machen wie gestern. Er würde sich kurz in dem gläsernen Raum mit der Linsenoptik verstecken, bis Silva Scheuermann vorbei war. Und dann würde er den Turm schleunigst wieder hinabsteigen.
Er stürmte die hundertzweiundsiebzig Stufen der steinernen Wendeltreppe nach oben. Die hinter dem Eingang gelagerten Stahlrohre, Teile irgendeines
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